Digitalwirtschaft und Leiharbeit: Die neue Abhängigkeit auf Zeit

Notizblock mit der Aufschrift „Temp Recruiter“, daneben ein gelber Wecker, Bleistift, Brille und Klemmbrett auf einem Holztisch.
Temporäre Personalvermittlung: Foto von Shutterstock / Azrin Aziri
Sie waren die Vorreiter der digitalen Arbeitswelt: freie Entwickler, Designer, Strategen – flexibel, kreativ, selbstbestimmt. Doch in der Realität der Digitalwirtschaft geraten immer mehr von ihnen in befristete Anstellungen auf Basis von Arbeitnehmer­überlassung. Aus Freelancern werden Leiharbeitnehmer, die über Agenturen oder Dienstleister an Unternehmen weitergereicht werden – oft für Daueraufgaben, selten mit Perspektive. Rechte wie Equal Pay, Mitbestimmung oder Integration in den Betrieb bleiben Theorie. Ein Blick auf eine Branche, die Freiheit verspricht, aber Unsicherheit produziert.

Aus der Selbstständigkeit in die Abhängigkeit

Was bis vor Kurzem als Inbegriff der digitalen Selbstbestimmung galt, wird zunehmend zur riskanten Grauzone. Programmierer, UI‑Designer oder Social‑Media‑Strategen, die jahrelang auf Honorarbasis arbeiteten, finden sich immer häufiger in Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) wieder, nicht, weil sie es wollen, sondern weil Auftraggeber das Risiko einer Scheinselbstständigkeit scheuen. Die Beschaffung von Fremdpersonal erfolgt meist über eine Personal‑ oder Projektagentur, die zwischen Talent und Endkunde geschaltet ist.

Das Ergebnis ist ein befristeter Anstellungsvertrag in der Zeitarbeit, oft mit Grundgehalt und der Option auf Einsatzbonus bei Auslastung. Dabei greift formal § 11 Abs. 4 AÜG: Der Verleiher befindet sich bei Nichteinsatz im sogenannten Annahmeverzug und muss das vereinbarte Entgelt zahlen, selbst wenn der Leiharbeitnehmer gerade keinem Kunden zugewiesen ist. In der Praxis jedoch wird häufig nur der Grundlohn ausbezahlt, während der Bonus ausbleibt. Eine Konstruktion, die das finanzielle Risiko auf die Beschäftigten abwälzt und den Druck erhöht, möglichst schnell erneut vermittelt zu werden.

Dass Leiharbeitnehmer dabei mitunter mehrfach weitergereicht werden, z. B. durch eine Agentur, die wiederum an ein Beratungsunternehmen verleiht, das schließlich beim Endkunden sitzt, ist rechtlich nicht zulässig. Solche Ketten‑, Zwischen- oder Weiterverleihungen sind nach § 1 Abs. 1 Satz 5 AÜG verboten und gelten als Ordnungswidrigkeit nach § 16 Abs. 1 Nr. 1b AÜG, mit Bußgeldern bis zu 30.000 Euro.

Rechte auf dem Papier …

Das Gesetz stattet Leiharbeitnehmer mit einem ganzen Arsenal an Schutzrechten aus:

  • Equal Pay & Equal Treatment: Spätestens nach neun Monaten muss das Entgelt dem der Stammbelegschaft entsprechen (§ 8 AÜG).
  • Zugang zur Kantine, zur Kita, zu Pausenräumen: Alle Gemeinschaftseinrichtungen stehen auch Leiharbeitnehmern offen (§ 13b AÜG).
  • Informationspflicht: Der Entleiher muss offenlegen, welche Arbeitsbedingungen gelten (§ 7 AÜG).
  • Garantielohn in Leerlaufphasen (§ 11 Abs. 4 AÜG) und Arbeitsschutz samt Gefährdungsunterweisung (§ 11 Abs. 6 AÜG).
  • Betriebsrat: Wer länger als drei Monate eingesetzt ist, darf im Entleihbetrieb wählen (§ 7 Satz 2 BetrVG) und der Betriebsrat muss jeder Verlängerung zustimmen (§ 99 BetrVG).
  • Teilzeit, Brückenteilzeit, Elternzeit: Alles genauso wie bei Festangestellten (TzBfG/BEEG).
  • Und wenn der Verleiher keine Erlaubnis besitzt, entsteht automatisch ein fiktives Arbeitsverhältnis zum Entleiher (§§ 9, 10 AÜG).

Auf dem Papier ist die Gleichstellung wasserdicht. In der Realität berichten Kreative von gesperrten Türchips für den Aufenthaltsraum, verpassten Stelleninterna und davon, dass sie während der Betriebsversammlung lieber „auf dem Gang warten“ sollen. Die Integration bleibt halbherzig – das Team‑Event ist für die Kernbelegschaft, das ausgeliehene Personal liefert still die Pixelschubser‑Arbeit ab.

… und die Praxis im Projektgeschäft

In der Digitalwirtschaft sind Projekte kurz, Budgets volatil. Das macht Leiharbeit attraktiv: Wenn der Sprint vorbei ist, endet auch der Bedarf. Befristete Verträge für Leiharbeit liefern die nötige Exit‑Option, oft verklausuliert als „Projektanstellung“. Doch längst nicht jede Aufgabe hat Projektcharakter. Content‑Moderation, Grafikdesign, Copywriting: Viele dieser Tätigkeiten laufen permanent. Arbeitsrechtler sprechen von Dauerausleihung, Betriebsräte verweigern inzwischen öfter ihre Zustimmung, wenn ein Unternehmen offene Dauerstellen mit Leihkräften „verkleidet“.

Brücken ohne Geländer

Politik und Branche loben die Leiharbeit gern als Sprungbrett. Doch die Statik der Brücke ist fragil. In einer älteren IAB‑Analyse wurden nur 7 Prozent der Leiharbeitnehmer vom Entleiher übernommen; die Hälfte war anschließend sogar wieder arbeitslos (IAB-Forschungsbericht, Seite 18). Die oft beschworene Übergangsfunktion verfehlt somit nach Ansicht vieler Experten ihr Ziel.

Ein Beispiel macht das Dilemma sichtbar: Work4Germany, das Fellowship‑Programm des DigitalService des Bundes. Seit 2020 stellt die bundeseigene GmbH Tech‑ und New‑Work‑Profis an und verleiht sie für sechs Monate an Ministerien – darunter ausgerechnet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Offiziell geht es um Wissenstransfer, nicht um Personalgewinnung. Eine Übernahme in den Beamten‑ oder Tarifdienst ist explizit nicht vorgesehen. Das BMAS, Hüter des Arbeitsrechts, nutzt also selbst das Instrument, das es andernorts schärfer regulieren will – ein Spannungsfeld, das in der Szene mit spitzen Kommentaren quittiert wird.

Flexibilität für Unternehmen, Unsicherheit für Beschäftigte

In Stellenausschreibungen klingt alles nach Gestaltungsfreiheit und Innovationsdrang – gesucht werden „agile Teamplayer“, die „Verantwortung übernehmen“ und „Out-of-the-Box denken“. Doch hinter der Oberfläche schlummern oft prekäre Vertragskonstruktionen: Projektrollen, die regelmäßig wechseln, Einsatzorte, die kurzfristig enden, Arbeitsverhältnisse, die nie in eine feste Perspektive münden.

Für Unternehmen bedeutet das Planbarkeit ohne Bindung – ein Leiharbeitnehmer kann binnen Tagen ersetzt werden, ohne soziale Folgen. Für Beschäftigte hingegen bleibt der Status in der Schwebe: rechtlich angestellt, praktisch ausgelagert. In internen Systemen werden sie nicht geführt, bei Fortbildungen nicht berücksichtigt, in der Kultur nicht mitgedacht. Die viel beschworene „Flexibilität“ bedeutet in vielen Fällen vor allem eines: die Verlagerung von Risiko – von Auftraggebern auf Mitarbeitende.

Die Digitalbranche, die sich gerne als Vorreiterin moderner Arbeitswelten inszeniert, läuft so Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen – nicht wegen fehlender Innovation, sondern wegen struktureller Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen, die sie tragen.

Risiken im Schatten der Start‑Up‑Romantik

  • Kurzfristige Kündbarkeit: Entleiher dürfen den Auftrag fast über Nacht stoppen. Die Leihkraft fällt zurück auf den Verleiher‑Tarif und rotiert in den nächsten Pitch.
  • Serienbefristung: Befristung auf Befristung nagt an Kredit‑ und Lebensplanung.
  • Keine Weiterbildung: Entleiher investieren selten in Schulungen für Personal, das in drei Monaten weiterzieht.
  • Psychologische Isolation: In agilen Teams gilt „one team, one dream“. Doch wer beim Slack‑Channel keine Schreibrechte hat, merkt schnell, dass er nur Gast ist.

Ansätze für mehr Fairness

Betriebsräte stärken

Die Mitbestimmung kann Fehlentwicklungen bei der Arbeitnehmerüberlassung wirksam begrenzen. Schon das Informationsrecht nach § 7 AÜG ist ein scharfes Schwert: Der Entleiher ist verpflichtet, Leiharbeitnehmer über die im Betrieb geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen, wie etwa Entgelthöhe oder Sonderzahlungen, zu informieren.

Festanstellungs‑Optionen verankern

Übernahmeverbote werden durch § 9 AÜG untersagt. Doch in der Digitalbranche kursieren inoffizielle Gentlemen‑Agreements. Ein klarer Übernahmepfad, nach neun oder zwölf Monaten, würde die Brücke stabilisieren.

Verantwortung bei Entleihern klar verankern

Viele Unternehmen nutzen externes Know-how dauerhaft, entziehen sich aber der Verantwortung für Integration und Arbeitsbedingungen. Entleiher sollten stärker in die Pflicht genommen werden – etwa bei Weiterbildung, internen Ressourcen und sozialer Teilhabe.

Projektbegriff präzisieren

Nicht jede Social‑Media‑Redaktion ist ein Projekt. Arbeitsgerichte könnten den Begriff enger fassen und Daueraufgaben als betriebsverfassungswidrige Dauerausleihe ahnden.

Ausblick

Die IT‑ und Kreativwirtschaft lebt von Tempo, Innovation und flexiblen Ressourcen. Arbeitnehmerüberlassung kann dabei ein legitimes Werkzeug sein – sofern sie wirklich temporäre Spitzen abdeckt und das gesetzlich garantierte Schutzpaket nicht nur auf dem Papier existiert. Derzeit jedoch verwandelt das Instrument zu viele ehemals selbstbestimmte Freelancer in Leiharbeiter zweiter Klasse, denen Integration, Weiterbildung und Planungssicherheit fehlen.

Wenn die Branche weiterhin die besten Köpfe anziehen will, muss sie mehr bieten als Kickertische und Stock‑Options: Transparente Verträge, sofortige Gleichbezahlung und reale Perspektiven auf Festanstellung. Andernfalls droht die scheinbar agile Projektwelt zur Dauer‑Prekarität mit Laptop‑Heiligenschein zu verkommen – glänzend ausgeleuchtet, aber ohne Fundament.

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