Digitale Verwaltung in der Grauzone
Agile Projektarbeit gilt als moderne Organisationsform, in der Kreativität und Flexibilität hochgehalten werden. Ob in der Softwareentwicklung, beim Prozessdesign oder in strategischen Beratungsprojekten: Agile Methoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking sollen rasch auf Markt- und Kundenanforderungen reagieren. Dabei ist es längst nicht nur die Privatwirtschaft, die auf diese Weise Projekte umsetzt. Auch in öffentlichen Behörden wird in großem Maßstab mit externen Kräften gearbeitet, um unter anderem digitale Anwendungen voranzutreiben – darunter so zentrale Leistungen wie Online-Anträge für Personalausweis, Reisepass, Führerschein, Elterngeld und Kindergeld. Diese Digitalisierungsschübe sollen beispielsweise im Sinne des Onlinezugangsgesetzes (OZG) stattfinden, das die Verwaltung verpflichten soll, wichtige Dienstleistungen online anzubieten.
Was aber, wenn sich hinter den Kulissen herausstellt, dass viele dieser Projekte auf juristisch unsicherem Fundament stehen – konkret: auf Scheinselbständigkeit und verdeckter Arbeitnehmerüberlassung? Die Politik gerät dadurch in die Bredouille, denn die Frage steht im Raum: Welche Botschaft sendet es an die Bürger, wenn man einerseits moderne digitale Services verspricht, diese aber andererseits mit Konstruktionen umsetzt, die rechtlich problematisch sein können?
Ein Blick in das Dokument
„Evaluation des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) – Endbericht zum Forschungsvorhaben“
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), nachfolgend „BMAS, AÜG-Evaluation 2022„, das online abrufbar ist, wirft ein Schlaglicht auf genau diese Fragestellungen.
Mehrere Studien, Gutachten und qualitative Interviews belegen dort, wie komplex die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung (also klassischer Zeitarbeit) und Werk- oder Dienstverträgen in hochqualifizierten Projektfeldern geworden ist (vgl. Seite 79 ff.). Gerade in der IT, wo Freelancer, Beratungshäuser und Projektteams eng verzahnt zusammenarbeiten, liegen die Herausforderungen laut Evaluationsbericht offen zutage.
Agile Projektarbeit: Chancen und Risiken
Agil zu arbeiten bedeutet, Ergebnisse nicht bis ins letzte Detail zu Beginn eines Projekts festzulegen, sondern iterativ zu entwickeln und sich dynamisch an neue Erkenntnisse anzupassen. Das passt zu einer Welt, in der technologische Sprünge in immer kürzeren Zyklen stattfinden. Und es passt auch zur öffentlichen Verwaltung, die in den vergangenen Jahren massiv externe Experten beauftragt hat, um benötigte Software schneller fertigzustellen. Insbesondere das Onlinezugangsgesetz wurde dadurch zum Schubmotor: Ob es um die Online-Beantragung von Reisepässen geht oder um die digitale Beantragung von Baugenehmigungen – oft arbeiten hier Expertenteams, die aus behördlichen Fachleuten und externen Auftragnehmern bestehen.
Freelancer oder Berater liefern Know-how, das teils rar ist und sich in der eigenen Behörde nicht im Handumdrehen aufbauen lässt. Doch sobald externe Fachkräfte sehr eng in die behördliche Organisation eingebunden werden, droht eine unsaubere Trennung: Arbeiten die Freelancer tatsächlich weisungsfrei auf Basis eines Werkvertrags oder liegen faktisch arbeitnehmerähnliche Verhältnisse vor? Schleicht sich die Gefahr einer Scheinselbständigkeit ein, vielleicht sogar eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung?
Genau hierin liegt ein zentrales Risiko agiler Modelle. Denn agile Teams setzen voraus, dass alle Beteiligten – sei es intern oder extern – im Tagesgeschäft eng miteinander kommunizieren. Ziel, Aufgaben, Anforderungen: All das wird meist in kurzen Sprints abgestimmt. In einem klassischen Werkvertrag, bei dem ein externer Dienstleister allein das Werk schuldet und frei über Ort, Zeit und Ausführung der Leistung entscheidet, ist solch eine Verzahnung kaum vorgesehen. Die Praxis agiler Methoden allerdings lebt von einem intensiven, oft täglichen Informationsaustausch. Die Grenze zwischen externer Dienstleistung und Eingliederung ins Unternehmen (oder die Behörde) ist schnell überschritten.
Scheinselbständigkeit und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung
Der Begriff Scheinselbständigkeit beschreibt, wenn jemand nach außen hin als selbständiger Unternehmer auftritt, tatsächlich aber in die Abläufe seines Auftraggebers eingebunden ist wie ein regulärer Beschäftigter. Rechtlich ist das unzulässig, weil solche Personen ohne die in Deutschland vorgeschriebenen Arbeitnehmerrechte eingesetzt werden. Verdeckte Arbeitnehmerüberlassung wiederum bedeutet, dass man offiziell einen Dienst- oder Werkvertrag abschließt, dieser aber nur den Anschein erweckt, selbständige Leistungen zu erbringen – in Wirklichkeit handelt es sich um klassische Leiharbeit, ohne dass die Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eingehalten werden.
Vor allem im IT-Sektor ist diese problematische Konstellation offenbar weit verbreitet. Im Evaluationsdokument wird dies bestätigt:
Ein Schwerpunkt sei der IT-Sektor [...], der von zumeist hochqualifizierten Arbeitskräften geprägt sei [...]. In diesem Kontext wird vermehrt davon ausgegangen, die gesetzeskonforme Abbildung bzw. Organisation von Projekten bzw. einzelnen Projektmaßnahmen sei aufgrund der Reform des AÜG wesentlich erschwert. Zugleich sei die Projektarbeit jedoch eine elementare Organisationsform hinsichtlich Innovation und Problemlösung.
BMAS, AÜG-Evaluation 2022, Seite 81
Hier offenbart sich ein zentrales Dilemma: Auf der einen Seite braucht man für agile Projekte hochqualifizierte Experten, auf der anderen Seite ist deren Einsatz über Dienst- oder Werkverträge risikobehaftet, wenn die Abgrenzung zur klassischen Anstellung verschwimmt. Weder Unternehmen noch Behörden streben dabei bewusst illegale Praktiken an. Häufig ist es Unsicherheit: Wie sehr darf ein Projektleiter externen IT-Profis Anweisungen geben, ohne ins Fahrwasser einer (Schein-)Beschäftigung zu geraten?
Compliance statt Kreativität
Im erwähnten Endbericht zur Evaluation des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) werden diese Fragen anhand vieler qualitativer Interviews untersucht. Unter anderem heißt es an einer Stelle:
[Die Reform des AÜG ist für den IT-Sektor problematisch], weil Sie dort einerseits per Freelancer einen Scheinselbstständigkeitsanteil drin haben, eine Gefahr einer Scheinselbstständigkeit, also einer illegalen Selbstständigkeit und die Gefahr einer illegalen Arbeitnehmerüberlassung. Also gewisse Konstruktionen […] führen zu einer Illegalität […] die müssen Sie alle aussteuern, dass Ihre Leute, die das abwickeln, die Einkäufer, die Projektleiter, das alles wissen [...]. Das erzeugt die Compliance-Herausforderung. Eine politische Regulierung in dieser Form erzeugt eine Compliance-Krise und die führt zu der Verunsicherung.
BMAS, AÜG-Evaluation 2022, Seite 331
Aus solchen Aussagen wird deutlich: Agilität verlangt eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten, während das AÜG auf einer klassischen Trennung von werkvertraglichen Dienstleistungen und Arbeitnehmerüberlassung beruht. Projektspezifikationen müssen klar abgegrenzt werden, um spätere Sanktionen – wie Bußgelder oder Ausschluss von öffentlichen Aufträgen – zu vermeiden. Doch gerade in dynamischen Entwicklungsprojekten ist es kaum möglich, das finale „Werk“ von Anfang an wasserdicht zu definieren. Es wird agil, in kurzen Sprints, iteriert.
Deutschland riskiert den Anschluss zu verpassen
Die immer komplexeren Anforderungen agiler Projektarbeit führen nach Ansicht zahlreicher Branchenexperten zu einer schleichenden Erosion der deutschen Innovationskraft, weil hochqualifizierte Fachkräfte zunehmend an starren Regelungen und Bürokratiehürden verzweifeln. Dies spiegelt sich auch im Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) wider, der im Dezember 2022 veröffentlicht wurde. Datin heißt es:
Während die Wirkung dieser gesetzlichen Regelungen im Querschnitt grundsätzlich eher positiv ist, führt sie im hochqualifizierten Segment der Arbeitnehmerüberlassung zu Herausforderungen, die als problematisch eingestuft werden und sich bis dato nicht konsolidiert haben. Die Problematik bezieht sich insbesondere auf die Beschäftigung von externen IT-Expertinnen und -Experten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren und im Allgemeinen auf die (agile) Organisation von Projekten im Bereich Forschung und Entwicklung. Die Wirkungen der Offenlegungs- und Konkretisierungspflicht in diesem Segment werden teils auch mit einer verminderten Innovationskraft und dem Verlust von Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich verknüpft.
BMAS, AÜG-Evaluation 2022, Seite 372
Trotz dieser mahnenden Worte und der anhaltenden Kritik aus Wirtschaft und Forschung hat das Ministerium bis April 2025 keine Anpassungen an den einschlägigen gesetzlichen Regelungen – insbesondere § 1 AÜG sowie §§ 7 und 7a SGB IV – vorgenommen.
So steht die Bundesrepublik vor der Herausforderung, den rechtlichen Rahmen für moderne Projektorganisation einerseits beizubehalten und andererseits den technologischen Fortschritt nicht auszubremsen, um die globale Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern.
Behörden als Vorreiter?
Interessanterweise sind es nicht nur private Unternehmen, die auf externe Fachleute setzen. Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) nutzen für agile IT-Projekte Hilfe von Beratungsfirmen oder Personaldienstleistern, die wiederum Freelancer vermitteln. Wie aus Branchenkreisen zu hören ist, geht es hier um Auftragsvolumina im dreistelligen Millionenbereich. Auch für die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes haben sich Bund und Länder externer Unterstützung bedient. Viele der Dienste – von der Steuererklärung bis zur Online-Gewerbeanmeldung – werden von Beratungsfirmen und Freelancern entwickelt oder betreut.
Auf den ersten Blick ist dies nachvollziehbar: Digitale Transformation in der Verwaltung ist anspruchsvoll, und nicht jeder Behörde stehen genügend IT-Experten zur Verfügung. So wird Fremdpersonal eingekauft, um Projekte schneller und moderner umzusetzen. Laut Fortschunsbericht (Seite 82) gelten diese Maßnahmen teils als unverzichtbar, um die Innovationskraft zu steigern.
Der öffentliche Sektor gerät damit jedoch unter Rechtfertigungsdruck: Wie soll man den Bürgern erklären, dass viele digitale Angebote, die der Staat selbst als essenziell einstuft, möglicherweise auf Konstruktionen beruhen, die als Scheinselbständigkeit oder versteckte Arbeitnehmerüberlassung bewertet werden könnten? Es steht die Frage im Raum: Was will die Politik und die Verwaltung den Bürgern jetzt sagen: Sind das alles Anwendungen, die mit viel Scheinselbständigkeit und verdeckter Arbeitnehmerüberlassung entwickelt wurden und werden?
Verunsicherung vs. Innovation
Die politisch gewollte Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sollte ursprünglich Missbrauch eindämmen – etwa in Niedriglohnbranchen, wo Leiharbeit oft eingesetzt wird, um Stammbelegschaften zu entlasten. Dass das AÜG mit seinen Offenlegungs- und Konkretisierungspflichten nun auch den hochqualifizierten Sektor erfasst, wirkt wie eine Nebenfolge, die laut Evaluationsbericht für Unsicherheiten sorgt:
Sowohl in den qualitativen Befunden als auch in der Literatur findet sich der Hinweis auf Herausforderungen im Kontext der sogenannten ‚agilen Projektarbeit‘, die auf die Reform des AÜG zurückgeführt werden (Bitkom 2017, Börsch et al. 2017, Sellinger et al. 2019, Stoffels 2020). Eine zentrale Annahme in der Literatur ist, dass es seit der Einführung der AÜG-Reform zunehmend komplex sei, agiles Projektmanagement rechtssicher abzubilden.
BMAS, AÜG-Evaluation 2022, Seite 81
Vor diesem Hintergrund wird es für Auftraggeber und Auftragnehmer gleichermaßen mühsam, zu Beginn eines Projekts klar und rechtssicher zu definieren, ob die Tätigkeit eher einem Werkvertrag entspricht oder einer Arbeitnehmerüberlassung. Denn bei agiler Vorgehensweise ist der Verlauf des Projekts oft offen: Teilziele ändern sich, neue Anforderungen kommen hinzu – das Werk „lebt“. Gerade diese Flexibilität gerät so zum Compliance-Risiko.
Zudem beobachten Studienautoren und Branchenverbände, dass sich viele Unternehmen aus Sorge vor rechtlichen Konsequenzen lieber zurückziehen und auf internationale Dienstleister oder alternative Modelle ausweichen. Auch die öffentliche Verwaltung steht vor einem Dilemma: Indem sie die notwendigen IT-Projekte teils an externe Berater vergibt und iterative Methoden einfordert, verkompliziert sie das juristische Setup – was wiederum zu mehr Unsicherheit führen kann.
Um solchen Unsicherheiten zu begegnen, sind in einigen Unternehmen und Behörden interne Kontrollstrukturen entstanden, die den Mitarbeitenden Schulungen und Leitfäden an die Hand geben. Das Dokument berichtet sogar von einem „Mehraufwand an Bürokratie“, der teils dazu führt, dass einzelne Betriebe die Arbeitnehmerüberlassung eher meiden (Seite 80 ff.). Im Worst Case wird dadurch der Fortschritt in digitalen Projekten gebremst, oder er läuft unter erhöhtem Risiko, später als Verstoß gegen das AÜG eingestuft zu werden.
In wessen Verantwortung?
Formal hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) die Aufsicht über die Einhaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes; hinzu kommen Zollbehörden, die ebenfalls Kontrollen durchführen. Doch auch diese Behörden selbst haben einen wachsenden Bedarf, ihre internen IT-Systeme agil zu modernisieren. Mitunter gerät man in eine Doppelrolle: als Kontrollinstanz und zugleich als Auftraggeber für große Digitalprojekte, bei denen externe Entwicklerteams involviert sind.
Mancher Kritiker fragt sich, ob man nicht an genau jenen Anforderungen scheitert, die man selbst mitformuliert hat. Schließlich bricht kein Unternehmen oder keine Behörde den Einsatz externer Spezialisten ab, bloß weil man sich auf juristisch schwieriges Terrain begibt. Zu groß scheint der Bedarf, zu sehr drängen politische Ziele wie die flächendeckende Digitalisierung der Verwaltung. Doch was, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass viele agile Entwicklungen eigentlich als Arbeitnehmerüberlassung zu werten wären und somit nicht korrekt gemeldet wurden?
Gerade im Hinblick auf das OZG steht viel auf dem Spiel: Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass digitale Angebote rechtssicher aufgesetzt werden – nicht nur technisch, sondern auch arbeitsrechtlich. Ansonsten droht ein Verlust an Vertrauen in die gesamte Digitalisierungsagenda.
Digitale Verwaltung auf wackligem Fundament?
Die Evaluation des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) zeigt eindrücklich: Dort, wo hochqualifizierte Fachkräfte und agile Projekte zusammenkommen, stoßen hergebrachte arbeitsrechtliche Kategorien oft an ihre Grenzen. Die Gefahren reichen von Scheinselbständigkeit über verdeckte Arbeitnehmerüberlassung bis zu komplexen Compliance-Herausforderungen. Unternehmen und Behörden, die dringend auf flexibles Expertenwissen angewiesen sind, müssen sich mit aufwändigen Prüfprozessen und Vertragsanpassungen auseinandersetzen.
Dass nun ausgerechnet Behörden, die selbst zusammengenommen Milliarden in agile IT-Projekte investieren, sich mit denselben Problemen konfrontiert sehen, macht die Brisanz deutlich. Zugleich wirft es die Frage auf, wie Politik und Verwaltung den Bürgern erklären wollen, dass zentrale Anwendungen – ob Personalausweis, Steuererklärung oder Wohngeldantrag – mitunter auf rechtlich umstrittenen Konstrukten basieren.
Rechtsunsicherheit erreicht die Verwaltung
Zunehmend geraten auch Behörden ins Visier der Kontrolleure – ein Umstand, der bislang vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieb. Insider berichten von Einsätzen des Zolls in öffentlichen Einrichtungen, ausgelöst durch rechtlich unklare Vertragsverhältnisse bei Projektarbeit mit externem Personal. Was Unternehmen seit Jahren beschäftigt, wird nun auch für den öffentlichen Sektor zur Realität. Die Unsicherheit wächst.
So soll etwa die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) am 8. Januar 2025 beim Hauptzollamt Berlin angezeigt worden sein – eine Information, zu der sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), dem die DRV in nachgelagerte Instanz untersteht, auffallend bedeckt hält. Immerhin räumt die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage hin ein, dass die Projektpraxis der DRV Bund derzeit einer aufsichtsrechtlichen Prüfung durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) unterliegt. Ein Vorgang mit Brisanz – auch, weil er die Frage aufwirft, wie lange sich die Politik der überfälligen Klärung noch entziehen kann.
In einer Rede eines Direktors der DRV Bund wird der Nutzen agiler Projektarbeit deutlich: „Binnen kürzester Zeit, in sogenannten Sprints, sind verschiedene Varianten entwickelt, geprüft, angepasst und schließlich mit dem BMAS in ein Konzept überführt worden […]“. Das BMAS – ausdrücklich genannt – scheint also eng eingebunden gewesen zu sein. Auf unsere Nachfrage vom 17. März 2025 beim BMAS dazu erhalten wir allerdings keine Antwort. Schweigen, wo Aufklärung gefragt wäre.
Im Vergabejournal der Europäischen Union, Tenders Electronic Daily (TED), lässt sich nachvollziehen, dass eine breite Palette öffentlicher Einrichtungen – von Bundesministerien über Landes- und Sicherheitsbehörden bis hin zu IT-Dienstleistern der Verwaltung, Finanz- und Steuerbehörden, Sozialversicherungsträgern, Rundfunkanstalten, Energieversorgern und Gesundheitseinrichtungen – regelmäßig auf externes Personal zurückgreift. Hierzu werden jährlich Steuergelder in Milliardenhöhe ausgegeben. Angesichts dieser Praxis mag sich ein aufmerksamer Bürger fragen, ob auch Finanz- und Steuerbehörden oder gar Polizeieinrichtungen, ihrerseits der Kontrolle durch den Zoll unterliegen – so, wie es bei privaten Unternehmen längst zum Alltag gehört.
Hat die Bundesregierung eine Lösung?
Auf eine schriftliche Frage eines Abgeordneten zu dem Urteil des LSG Baden-Württemberg mit Aktenzeichen L 8 BA 1374/20 zur agilen Projektarbeit antwortete die Bundesregierung in der Woche vom 20. Januar 2025 in Drucksache 20/14639 vom Deutschen Bundestag.
Welche Kriterien sind aus Sicht der Bundesregierung im Rahmen agiler digitaler Arbeitsprozesse heranzuziehen, um zu entscheiden, ob ein Beschäftigungsverhältnis selbständig oder abhängig erfolgt, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Rechtsprechung (Urteil vom 17. Dezember 2021, L 8 BA 1374/20), wonach das Kriterium der Eingliederung (vgl. § 7 Absatz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch) bei digitalen, agilen Arbeitsprozessen ungeeignet ist und einer Weiterentwicklung bedarf?
Deutscher Bundestag, Drucksache 20/14639, Frage 59, Seite 45 ff.
Nach § 7 Absatz 1 Satz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Absatz 1 Satz 2 SGB IV). Maßgebend für die Einstufung, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Gesamtbetrachtung des Einzelfalls. Dies gilt für jede Tätigkeit. Eine pauschale Einstufung etwa bestimmter Berufsgruppen erfolgt nicht. Die gesetzlich vorgesehene Abgrenzung abhängiger Beschäftigung von selbständiger Tätigkeit ist flexibel und offen im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit heutiger Erwerbsformen und zukünftige neue Entwicklungen. Dies belegt die in der Fragestellung zitierte rechtskräftige Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2021 (L 8 BA 1374/20), in der im konkreten Fall Selbständigkeit festgestellt wurde.
Die Auslegung des § 7 SGB IV und die Entscheidung im Einzelfall obliegt dem zuständigen Sozialversicherungsträger und im Streitfall den Sozialgerichten.
Bestehen Zweifel, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit vorliegt, können sich die Beteiligten mit dem optionalen Statusfeststellungsverfahren (§ 7a SGB IV) frühzeitig Rechtsklarheit über den Rechtscharakter ihrer Vertragsbeziehung verschaffen. Dieses Verfahren dient einer schnellen und sachgerechten Klärung der StatusfrageAntwort Bundesregierung durch das BMAS
Gesucht: Rechtssicherheit für die Digitalisierung
Aus der Perspektive einer innovationsfreudigen, zukunftsorientierten Gesellschaft ist klar, dass agile Methoden ein Herzstück moderner Projektarbeit bleiben werden. Ebenso klar ist, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen besser an diese Form des Arbeitens anpassen müssen. Eine bloße Verschärfung oder das Ignorieren der Praxis wird die Kreativität und Innovationskraft in Deutschland eher bremsen. So entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem legitimen Wunsch nach Rechtssicherheit und der notwendigen Flexibilität, die agile Projekte erfordern.
Es bleibt daher zu hoffen, dass die Diskussion über das AÜG, über Scheinselbständigkeit und Arbeitnehmerüberlassung weiter differenziert geführt wird. In den Interviews des BMAS Forschungsberichts wird immer wieder betont, dass nicht nur Unternehmen, sondern ebenso Behörden hohes Interesse an praktikablen Regelungen haben. Die nötigen Reformansätze – ob in Form eindeutigerer Definitionen, praxistauglicher Leitlinien oder einer klareren Abgrenzung zwischen Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung – müssten indes sehr sorgfältig ausgearbeitet werden, um nicht erneut Unsicherheit zu stiften.
Denn klar ist: Agile Projektarbeit wird bleiben, und sie braucht Rechtssicherheit, um wirklich effektiv zu sein. Wie der Gesetzgeber im Detail darauf reagieren wird, ist offen. Die Debatte ist jedoch längst in vollem Gange. Und am Ende gilt: Nur wenn Innovation und Rechtsklarheit harmonieren, wird es gelingen, digitale Verwaltungsleistungen überzeugend zu entwickeln – ganz im Sinne jener Bürger, die ein funktionierendes, modernes Staatswesen erwarten.