Zwischen Freiheit und Fiktion: Wann Freelancing zur Scheinselbstständigkeit wird
Ein Freelancer – oft mobil und akademisch gebildet – gestaltet Logos für Start-ups in Stockholm, programmiert Software für Kunden in Singapur oder redigiert Texte für Verlage in Zürich. Er steht beispielhaft für eine neue Arbeitswelt, die an Grenzen kaum noch interessiert ist, wohl aber an Stabilität, Selbstbestimmung und technischer Vernetzung.
Doch was geschieht mit dieser Figur, wenn man sie in politische Systeme versetzt, die ihre eigenen Vorstellungen von Freiheit, Eigentum und Arbeit verfolgen? Ein gedankliches Experiment führt uns durch vier symbolische Büros – und damit durch vier weltanschauliche Modelle: Kommunismus, Sozialismus, Konservatismus, Liberalismus.
Bereits das Inventar spricht Bände: Das kommunistische Büro bleibt leer, der Staat duldet keine unternehmerische Eigeninitiative. Im sozialistischen Modell wacht eine Kontrollinstanz über die Tätigkeit. Der konservative Raum zeugt von Stabilität und Tradition, während im liberalen Setting Bildschirme flimmern und die Kundenanfragen im Sekundentakt eintreffen.
Wer genau hinsieht, erkennt mehr als politische Bilder. Er erkennt die Grundfrage des Freelancings in Deutschland: Wie viel unternehmerische Freiheit ist erlaubt, bevor sie zur Scheinselbstständigkeit erklärt wird? Und wie viel Regulierung verträgt ein freier Beruf, ohne seinen Kern zu verlieren?
Kommunismus – das leere Zimmer
Beginnen wir mit dem vermeintlich einfachsten Setting. In der klassischen marxistisch‑leninistischen Theorie wird jede Form privatwirtschaftlicher Tätigkeit aufgehoben. Betriebe gehören dem Volk, vertreten durch den Staat; Planung ersetzt Markt; Löhne ersetzen Gewinne. Wer im Auftrag Dritter arbeitet, tut dies als Angestellter staatlicher Kombinate, nicht als Unternehmer in eigener Sache.
Der Gedankengang, wonach es unter einer strengen kommunistischen Ordnung keine Freelancer geben könne, ist daher im Kern korrekt. Denn ein Freelancer ist, nach deutscher Lesart, ein Selbstständiger (§ 7 SGB IV), der weder in den Betrieb des Auftraggebers eingegliedert noch dessen Weisungen unterworfen ist. Genau diese doppelte Negation hebt der Kommunismus systemisch auf: Die Planbehörde tritt an die Stelle des Marktes, generelle Weisungsabhängigkeit ist damit obligatorisch.
In China existieren heute in der Digitalwirtschaft Formen einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Solche Phänomene sind jedoch Konzessionen an ökonomische Effizienz, nicht Ausdruck eigentlicher freier Selbstständigkeit. Politisch können sie jederzeit zurückgenommen werden. Die metaphysische Leere des kommunistischen Büros – ein ausgeschalteter Rechner, ein verwaister Stuhl – ist darum ein durchaus treffendes Sinnbild.
Sozialismus – das Büro unter Aufsicht
Im Sozialismus arbeitet zwar ein Selbstständiger, doch neben ihm steht ein sinnbildlicher Regierungsvertreter mit Klemmbrett. Die Szene erinnert an moderne Wohlfahrtsstaaten, die zwar mitunter unter dem Begriff „Sozialismus“ firmieren, in Wirklichkeit jedoch Mischformen aus Marktwirtschaft und staatlicher Regulierung darstellen.
In Deutschland etwa genießen Selbstständige grundsätzlich Vertragsfreiheit, doch das Netz arbeits- und sozialrechtlicher Vorgaben wird zunehmend dichter geknüpft. Das Stichwort lautet Scheinselbstständigkeit – juristisch definiert in § 7 Abs. 1 SGB IV. Sitzt der Auftraggeber regelmäßig mit am Tisch, bestimmt Arbeitsabläufe, stellt Betriebsmittel oder kontrolliert den Arbeitseinsatz, so spricht vieles für eine abhängige Beschäftigung. In der Metapher wirkt es, als hielte der Staat selbst das Klemmbrett – und nicht nur symbolisch.
Die sozialdemokratische Ordnung versucht, unternehmerische Freiheit mit sozialer Absicherung zu vereinen. Schutzrechte für Solo-Selbstständige und Umverteilungsziele stehen dabei oft in einem Spannungsverhältnis. Höhere Abgaben, Meldepflichten und Prüfverfahren sind die Folge. Ein Programmierer, der fortlaufend für einen einzigen Großkunden, mitunter für eine Behörde tätig ist, läuft rasch Gefahr, in den Fokus der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zu geraten. Dabei ist die DRV Bund mit ihren ausgeprägten Fremdpersonaleinsätzen selbst in die Fänge der Aufsichtsbehörde geraten, das bestätigte die Bundesregierung.
Die Aufsichtsfigur im Bild steht deshalb nicht allein für autoritäre Kontrolle, sondern für die rechtliche Grauzone zwischen Autonomie und Absicherung – eine Zone, die in Zeiten digitaler Arbeitswelten und grenzüberschreitender Plattformökonomie zunehmend schwer zu kartografieren ist.
Konservatismus – das Zimmer der Tugenden
Die dritte Szene wirkt beinahe vertraut: ein Holzschreibtisch, darauf ein Familienfoto, daneben eine Stehlampe. Es ist das Bild eines konservativen Milieus, das nicht auf Entfesselung des Marktes, sondern auf Ordnung und Verlässlichkeit setzt. Konservative Wirtschaftspolitik legt den Schwerpunkt weniger auf Deregulierung als auf stabile Rahmenbedingungen: eine unabhängige Justiz, Eigentumsgarantie, maßvolle Besteuerung und gesellschaftliche Anerkennung unternehmerischer Verantwortung.
Das Familienfoto auf dem Tisch ist dabei mehr als Dekor – es ist Sinnbild für ein Arbeitsverständnis, das über den bloßen Broterwerb hinausreicht. Arbeit soll eingebettet sein in familiäre und gesellschaftliche Zusammenhänge, sie stiftet Identität und Kontinuität. Zugleich verweist es auf eine spezifisch konservative Sicht auf das Freelancing: Als Möglichkeit zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zur Ausübung nebenberuflicher Tätigkeiten, zur wirtschaftlichen Selbstverwirklichung im kleinen Maßstab. Nicht zufällig machen Nebenerwerbsgründungen – jährlich rund 350 000 in Deutschland – einen wesentlichen Teil der Gründerlandschaft aus.
Doch auch dieses Modell kennt seine Schattenseiten. Wer als Einzelunternehmer agiert, profitiert zwar von unternehmerischer Autonomie, muss aber zugleich Vorsorge für Krankheit, Alter und Haftungsrisiken eigenverantwortlich organisieren.
Konservatismus bedeutet eben nicht Fürsorge durch den Staat, sondern das Vertrauen darauf, dass individuelle Verantwortung innerhalb eines stabilen Ordnungsrahmens tragfähig ist. Dass der Selbstständige im Bild dennoch zuversichtlich wirkt, verweist auf genau diesen Glauben: dass sich Freiheit, getragen von Disziplin und Institutionen, am Ende lohnt.
Liberalismus – das High‑Tech‑Atelier
Die vierte Szene zeigt das High‑Tech‑Atelier des Liberalismus: mehrere Monitore, ein dampfender Kaffeebecher, Chat‑Fenster mit Kundenanfragen aus Sydney, São Paulo und Stuttgart. In Deutschland stützt sich dieses Freiheitsversprechen auf Art. 12 GG – die Berufsfreiheit: Wer sich als Entwickler, Designer oder Texter selbständig machen will, braucht weder Meisterbrief noch Mindestkapital. Die Plattformökonomie – von Upwork bis zu heimischen Marktplätzen wie Freelancermap – macht den Solo‑Unternehmer zum „Micro‑Multinational“, der seine Expertise global anbietet, während Rechnungen per Überweisung, PayPal oder Stripe eingehen.
Doch auch der Liberalismus kennt Sollbruchstellen. Freiheit ohne Haftung untergräbt Vertrauen – eine Einsicht, die sich in Berlin ebenso herumgesprochen hat wie in Brüssel. Bleibt der Grafiker in Tallinn die Bezahlung schuldig oder liefert der Copywriter in Lissabon Plagiate, greift deutsches Recht nur begrenzt. Daher entstehen Mindeststandards: Schiedsgerichte nach UNCITRAL‑Regeln, Treuhandkonten auf Plattformen, Transparenzpflichten aus dem Digital Services Act, künftig ergänzt durch die EU‑Richtlinie zur Plattformarbeit.
Gleichwohl rückt eine neue Form der Unfreiheit näher: algorithmische Selbstversklavung. Wer rund um die Uhr erreichbar ist, Projektmargen mit der Stoppuhr misst und um Sterne‑Ratings kämpft, spürt jenen subtilen Druck, den früher der sozialistische Aufpasser ausübte – nur dass heute kein Beamter im Raum steht, sondern unsichtbarer Code im Backend. Der liberale Quadrant verweist damit auf eine doppelte Aufgabe: Schutz der Autonomie ohne Vormundschaft und Sicherung fairer Spielregeln ohne digitalen Dirigismus.
Der rote Faden: Eingliederung und Weisungsfreiheit
Die vier Bilder lassen sich als Stufenleiter der Eingliederung interpretieren:
Kommunismus: vollständige Eingliederung ins Staatssystem → kein Freelancer.
Sozialismus: teilweise Eingliederung über Regulierung → reduziertes Freelancer‑Dasein.
Konservatismus: minimale Eingliederung, Schutz durch Tradition → gestütztes Freelancer‑Dasein.
Liberalismus: formell keine Eingliederung, faktisch Plattform‑Abhängigkeit → ambivalentes Freelancer‑Dasein.
In allen Varianten entscheidet sich die Statusfrage letztlich an § 7 Abs. 1 SGB IV: Wer bestimmt wann, wo und wie gearbeitet wird? Je stärker die Fremdbestimmung, desto wahrscheinlicher die Qualifikation als Arbeitnehmer – ob der Auftraggeber nun Staat, Konzern oder Algorithmus heißt.
Die Freiheit des leeren Stuhls
Freelancing ist mehr als eine Erwerbsform; es ist ein Seismograph wirtschaftlicher Freiheit. Wo der Stuhl leer bleibt, hat das System die individuelle Initiative ausgelöscht. Wo der Stuhl besetzt ist, aber ein Aufseher danebensteht, erstickt Bürokratie den Unternehmergeist. Wo Familienfotos und Tradition Halt geben, trägt Freiheit Verantwortung. Und wo Bildschirme blinken, droht Selbstoptimierung in neue Abhängigkeiten umzuschlagen.
Die moralische Pointe liegt in der Leerstelle selbst: Ein freier Markt ohne selbstbestimmte Menschen wäre so undenkbar wie ein kommunistischer Staat, der echten Unternehmern das Feld überließe. Der leere Stuhl mahnt uns daher, die Balance zu wahren – zwischen Sicherheit und Selbstverwirklichung, Kollektivinteresse und Eigenrisiko.
Gerade Deutschland, Heimat des „Meisterbriefs“ und zugleich Hotspot digitaler Solo‑Selbstständiger, kann aus dem Quartettszenario lernen. Wer Freelancer fördert, fördert Innovation. Wer sie überreguliert, treibt sie in Länder, deren Büro nicht leer steht. Und wer sie gar nicht erst zulässt, wird den globalen Ideenstrom bald nur noch aus zweiter Hand konsumieren.
Am Ende bleibt die Frage, die sich jeder Wissensarbeiter stellen muss: Unter welchen Bedingungen bin ich bereit, den Stuhl zu verlassen – oder mich darauf niederzulassen? Die Antwort definiert nicht nur individuelle Karrieren, sondern den ökonomischen Charakter ganzer Gesellschaften. Denn wo sich der leere Stuhl befindet, dort befindet sich, im Wortsinn, die Freiheit.