Recherchen zu einer Vergabe der Deutschen Rentenversicherung
Im September 2023 wurden wir auf eine Vergabe der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) in Berlin aufmerksam, bei der eine Containerplattform (Cloudlösung) produktiv aufgebaut werden soll. Wir haben daraufhin die öffentlichen Vergabeunterlagen heruntergeladen und geprüft.
Am 11. Dezember 2023 wurde ein Vertrag mit einem Wirtschaftsteilnehmer geschlossen. Das Ergebnisdokument kann im Tenders Electronic Daily (TED) öffentlich eingesehen werden:
https://ted.europa.eu/de/notice/-/detail/757365-2023
Nicht die Vergabe an einen Wirtschaftsteilnehmer, sondern moderne agile Arbeitsformen in Form von Projektarbeit bei der Deutschen Rentenversicherung Bund selbst sind Gegenstand dieses Artikels.
Ausschluss von Arbeitnehmerüberlassung in den Bieterfragen
Während der Wettbewerbsphase konnten Interessenten Bieterfragen per Email an die DRV richten, die beantwortet und in einem Dokument zusammengefasst auf der Vergabeplattform der DRV öffentlich einsehbar waren.
Im Folgenden werden zwei Fragen von Bietern und die Antworten der DRV zu den ANÜ-Kriterien aus dem Dokument zitiert (Seite 5, Seite 6):
Frage Bieter: Kann der Bieter davon ausgehen, dass keine Arbeitnehmerüberlassung / Personalgestellung erfolgt?
Antwort DRV: JaBieterfrage #22
In einer Bieterfrage werden agile Arbeitsweisen und eine intensive Zusammenarbeit gemischter Entwicklungsteams seitens der DRV und dem Auftragnehmer adressiert.
Frage Bieter: Die von Ihnen in Rahmen des Projektes geforderte Leistungserbringung erfordert aus unserer Sicht agile Arbeitsweisen und eine intensive Zusammenarbeit gemischter Entwicklungsteams seitens des Auftraggebers und des Auftragnehmers. Können wir davon ausgehen, dass der Auftraggeber die Erbringung der ausgeschriebenen Leistungen dennoch ausschließlich im Wege einer Dienstleistungszusammenarbeit organisieren wird und eine Arbeitnehmerüberlassung explizit nicht in der vorliegenden Vergabe zu berücksichtigen ist?
Antwort DRV: Ja, das ist korrekt.Bieterfrage #23
Moderne agile Arbeitsformen gemäß Deutscher Rentenversicherung
Auf einer Webseite der DRV Bund lassen sich die fünf größten Irrtümer zum Statusfeststellungsverfahren nachlesen. Irrtum 4: „Die Prüfkriterien sind für die Statusbeurteilung moderner agiler Arbeitsformen ungeeignet und insgesamt zu streng.“
So tritt gerade bei Hochqualifizierten und Spezialisten an die Stelle der Weisungsgebundenheit die Eingliederung. Eine Eingliederung ist gegeben, wenn der Mitarbeiter eine (Teil-)Leistung innerhalb der vom Arbeitgeber vorgegebenen Organisationsabläufe erbringt, die dortigen Betriebsmittel nutzt und arbeitsteilig in den vorgegeben Strukturen mit anderem Personal zusammenarbeitet. Im Zusammenspiel mit den zahlreichen weiteren Abgrenzungskriterien kommt man auch bei modernen Arbeitsformen zu richtigen und sachgerechten Ergebnissen.
[...] Die Clearingstelle hat keine Spielräume, die von der Rechtsprechung entwickelten Prüfkriterien abzuschwächen und „weniger streng“ zu entscheiden.DRV Bund, Die fünf größten Irrtümer zum Statusfeststellungsverfahren, Irrtum 4
Nun geht es in dem vorliegenden Projekt bei der Deutschen Rentenversicherung genau um jene agile Arbeitsmethoden und eine intensive Zusammenarbeit von gemischten Entwicklungsteams.
Auszug aus dem Pflichtenheft der Deutschen Rentenversicherung
Dem während der Vergabezeit öffentlich zugänglichen Pflichtenheft für das Projekt kann folgendes entnommen werden:
- Erstellung von Konzepten entsprechend der Anforderungen der DRV-internen Architekturgremien
- Jira für das Planen und Nachverfolgen von Arbeitsinhalten
- HCL-Notes-Datenbanken zum Austausch von Fachkonzepten
- Architekturdokumente der DRV-IT im MS-Office-Format
- Confluence-Datenbank (Unternehmens Wiki)
- Geschäftsanweisung der Abteilung 11 der DRV Bund
Ein Blick in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)
Werfen wir einen Blick in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zur rechtlichen Definition der Überlassung von Arbeitnehmern und den Kriterien dafür.
(1) Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung überlassen (Arbeitnehmerüberlassung) wollen, bedürfen der Erlaubnis. Arbeitnehmer werden zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen. Die Überlassung und das Tätigwerdenlassen von Arbeitnehmern als Leiharbeitnehmer ist nur zulässig, soweit zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis besteht. Die Überlassung von Arbeitnehmern ist vorübergehend bis zu einer Überlassungshöchstdauer nach Absatz 1b zulässig. Verleiher und Entleiher haben die Überlassung von Leiharbeitnehmern in ihrem Vertrag ausdrücklich als Arbeitnehmerüberlassung zu bezeichnen, bevor sie den Leiharbeitnehmer überlassen oder tätig werden lassen. Vor der Überlassung haben sie die Person des Leiharbeitnehmers unter Bezugnahme auf diesen Vertrag zu konkretisieren.
Auszug aus dem AÜG: § 1 Arbeitnehmerüberlassung, Erlaubnispflicht
Was sind arbeitsrechtliche Weisungen?
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich bereits in mehreren Urteilen dafür ausgesprochen, dass arbeitsrechtliche Weisungen ablauf- und verfahrensorientiert sind. Wenn der Auftraggeber die Tätigkeit des Mitarbeitenden plant und organisiert und ihn damit in seinen arbeitsteiligen Prozess einbezieht, liegt ein Arbeitsverhältnis oder eine Arbeitnehmerüberlassung nahe.
Im Juli 2022 urteilte das BAG zur Abgrenzung einer Arbeitnehmerüberlassung von einem Werk- bzw. Dienstvertrag (BAG, Urteil vom 05.07.2022, Az. 9 AZR 323/21, Rn. 19):
Der Werkbesteller kann, wie sich aus § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt, dem Werkunternehmer selbst oder dessen Erfüllungsgehilfen Anweisungen für die Ausführung des Werks erteilen. Entsprechendes gilt für Dienstverträge. Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist von der projektbezogenen werkvertraglichen Anweisung iSd. § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden. Die werkvertragliche Anweisung ist sachbezogen und ergebnisorientiert. Sie ist gegenständlich auf die zu erbringende Werkleistung begrenzt. Das arbeitsrechtliche Weisungsrecht ist demgegenüber personenbezogen, ablauf- und verfahrensorientiert. Es beinhaltet Anleitungen zur Vorgehensweise und weiterhin die Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts sind [...].
BAG, Urteil vom 05.07.2022, Az. 9 AZR 323/21, Rn. 19
Bereits im Dezember 2020 hat das BAG über den Arbeitnehmerstatus eines Crowdworkers entschieden (BAG, Urteil vom 01.12.2020, Az. 9 AZR 102/20, Rn. 35):
Allerdings können Weisungsrechte auch außerhalb eines Arbeitsverhältnisses bestehen. Weisungsgebundenheit iSv. § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB setzt voraus, dass der Beschäftigte in der Gestaltung seiner Tätigkeit nicht „im Wesentlichen frei“ ist. Zeitliche Vorgaben oder die Verpflichtung, bestimmte Termine für die Erledigung der übertragenen Aufgaben einzuhalten, sind für sich allein kein wesentliches Merkmal für ein Arbeitsverhältnis. Auch gegenüber einem freien Mitarbeiter können Termine für die Erledigung der Arbeit bestimmt werden, ohne dass daraus eine arbeitnehmertypische zeitliche Weisungsgebundenheit folgt [...]. Zudem steht einem Auftraggeber gegenüber einem freien Mitarbeiter grundsätzlich das Recht zu, Anweisungen hinsichtlich des Arbeitsergebnisses zu erteilen. Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist daher gegenüber dem Weisungsrecht für Vertragsverhältnisse mit Selbständigen und Werkunternehmern abzugrenzen. Die Anweisung gegenüber einem Selbständigen ist typischerweise sachbezogen und ergebnisorientiert und damit auf die zu erbringende Dienst- oder Werkleistung ausgerichtet. Im Unterschied dazu ist das arbeitsvertragliche Weisungsrecht personenbezogen, ablauf- und verfahrensorientiert geprägt. Es beinhaltet Anleitungen zur Vorgehensweise und zur Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts sind [...]. Für die Bestimmung des Vertragstypus kommt es indiziell darauf an, inwieweit der Arbeitsvorgang durch verbindliche Anweisungen vorstrukturiert ist. Weisungen, die sich ausschließlich auf das vereinbarte Arbeitsergebnis beziehen, können auch gegenüber Selbständigen erteilt werden. Wird die Tätigkeit aber durch den „Auftraggeber“ geplant und organisiert und der Beschäftigte in einen arbeitsteiligen Prozess in einer Weise eingegliedert, die eine eigenverantwortliche Organisation der Erstellung des vereinbarten „Arbeitsergebnisses“ faktisch ausschließt, liegt ein Arbeitsverhältnis nahe. Richten sich die vom Auftragnehmer zu erbringenden Leistungen nach dem jeweiligen Bedarf des Auftraggebers, so kann auch darin ein Indiz gegen eine werk- und für eine arbeitsvertragliche Beziehung liegen, wenn mit der Bestimmung von Leistungen auch über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit entschieden wird [...].
BAG, Urteil vom 01.12.2020, Az. 9 AZR 102/20, Rn. 35
Im vorliegenden Auftrag geht es um agile Arbeitsmethoden und eine intensive Zusammenarbeit von gemischten Entwicklungsteams auf Seiten des Auftraggebers und des Auftragnehmers. Eine Arbeitnehmerüberlassung wurde dennoch auf explizite Nachfrage eines Bieters von der DRV Bund ausgeschlossen (Bieterfrage #23).
Abklärung mit der Deutschen Rentenversicherung zu ihrer Projektarbeit
Im Rahmen einer Statusfeststellung des Erwerbsstatus durch die Deutsche Rentenversicherung ist ein Fragebogen auszufüllen (siehe C0031). Dieser Fragebogen ist mit 12 Seiten recht umfangreich. Er enthält auch Fragen zur Projektarbeit.
Diese Fragen finden wir so gut, dass wir uns gedacht haben: Warum fragen wir die Deutsche Rentenversicherung nicht selbst nach ihren eigenen Projekten mit ihren eigenen Fragen?
Da die DRV Bund, wie der Name schon sagt, eine Bundesbehörde ist, gilt für Sie das „Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG)“. Nach § 7 Abs. 5 IFG sind erbetene Auskünfte unverzüglich, spätestens nach Ablauf eines Monats, zugänglich zu machen. Kann diese Frist nicht eingehalten werden, ist dies dem Antragsteller innerhalb der Frist mitzuteilen.
Wir baten um Zusendung der Antworten auf unsere Fragen in der offiziellen Briefvorlage der DRV Bund als PDF-Datei an unsere E-Mail-Adresse unverzüglich nach dem IFG. Unseres Erachtens handelt es sich um eine einfache Auskunft. Gebühren fallen somit nach § 10 IFG nicht an. Auslagen dürfen nach BVerwG 7 C 6.15 nicht berechnet werden. Wir baten auch um vorherige Benachrichtigung, wenn die Anfrage mit Kosten verbunden ist.
Die folgenden Fragen haben wir der DRV Bund in Anlehnung an die Fragen des Fragebogens C0031 gestellt. Wir haben sowohl den Direktor (Geschäftsführer), der u.a. für die Bereiche IT und Vergabestelle zuständig ist, als auch die Direktorin (Geschäftsführerin), die u.a. für die Clearingstelle zuständig ist, in unsere Anfrage einbezogen.
- Bitte geben Sie an, welche Vorgaben beziehungsweise vertragliche Vereinbarungen zum Umfang und Lage der Arbeitszeit bestehen; nimmt das eingesetzte Fremdpersonal an Besprechungen, Teammeetings oder Teambesprechungen im Projekt bei der DRV Bund teil?
- Welche inhaltlichen Vorgaben zur Art und Weise der Auftragsausführung (zum Beispiel konkrete Absprachen, Aufgabeneinweisungen, einzuhaltende Arbeitsabläufe / Betriebsabläufe / Verwaltungsabläufe) werden von der DRV Bund gemacht?
- Dürfen Beschäftigte der DRV Bund einseitig Aufgaben verändern/konkretisieren und hat der Auftragnehmer ein echtes Mitspracherecht, ohne dass er riskiert den Auftrag zu verlieren bzw. die DRV Bund einen Austausch des eingesetzten Fremdpersonals fordert?
- Werden die Arbeitsergebnisse im Projekt seitens der DRV Bund regelmäßig kontrolliert, beispielsweise durch einen Umsetzungsstatus in einem Ticketsystem, einen Umsetzungsstatus per Email, einen Umsetzungsstatus per PowerPoint oder Statusmeetings; sind Leistungsnachweise zu erzeugen?
- Werden Vorarbeiten von Beschäftigten des Auftraggebers ausgeführt, wie die Bereitstellung von Infrastrukturkomponenten (z.B. virtuelle Maschinen) und die Administration dieser (z.B. Netzwerkadministration)?
- Nutzt der Auftragnehmer bei der Auftragsausführung von der DRV Bund Arbeitsmittel (zum Beispiel Hardware / Laptop oder Software / Anwendungssoftware)?
- Bitte machen Sie Angaben zur Vergütung und Abrechnungsgrundlage: Erfolgt die Vergütung des Aufwandes auf der Grundlage eines vereinbarten Stunden-/Tagessatzes und die Abrechnung der erbrachten Leistung auf der Grundlage von Leistungsnachweisen?
- Wie wurde die Höhe der Vergütung vereinbart; kommen feste Tagessätze der eingesetzten Berater eines bestimmten Joblevels (z.B. Senior, Manager) nach Maßgabe der DRV Bund zum Einsatz?
- Welche Annahmen hat die DRV Bund bei der Beantwortung der Bieterfrage #22 „Kann der Bieter davon ausgehen, dass keine Arbeitnehmerüberlassung / Personalgestellung erfolgt?“, Antwort: „Ja.“ getroffen?
- Hält die DRV Bund weiterhin am Vertragstext aus dem EVB-IT Dienstvertrag mit der Kennung FV-12-23-0288-13-01 aus Kapitel 15.2 fest, insbesondere Satz 2 (Genehmigung durch die DRV Bund)?
Der Austausch von Personen seitens des Auftragnehmers ist nur aus zwingendem Grund zulässig. Dieser ist schriftlich darzulegen und vom Auftraggeber zu genehmigen. Kein zwingender Grund liegt vor, wenn diese Personen für ein anderes Projekt/Aufgabe tätig werden sollen, es sei denn dies dient den Interessen des Auftraggebers.
DRV Bund, Vertragsnummer FV12-23-0288-13-01, Seite 11, Ziffer 15.2, Abs. 2
Außerdem bitte ich um Beantwortung einer Frage zur Projektarbeit bei der DRV Bund im Allgemeinen:
Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen.
§ 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG
- Wie gedenkt die DRV Bund zukünftig Projekte mit Fremdpersonal auf der Grundlage von Vertragskonstruktionen durchzuführen, die auf Arbeitnehmerüberlassung hindeuten und länger als 18 Monate ununterbrochen andauern?
Unsere Fragen haben wir der DRV Bund am 04. August 2024 per E-Mail übermittelt. Der Eingang der E-Mail wurde uns kurz darauf mit einer Abwesenheitsnotiz bestätigt.
Am 09. September 2024 haben wir die Nichteinhaltung der gesetzlichen Vorgaben nach dem IFG beanstandet. Wir haben eine neue Frist gesetzt und telefonisch mit einem leitenden Angestellten der Vergabestelle besprochen: 30. September 2024.
Update: Pünktlich zu Heiligabend am 24. Dezember 2024 erreichte uns per Post die Antwort der DRV Bund auf unsere IFG-Anfrage. Wir werten diese nun aus und werden zeitnah in einem weiteren Beitrag darüber berichten.