Die Gretchenfrage: Wer ist selbstständig, wer nicht?
Kern des Problems ist die Frage, unter welchen Bedingungen eine vermeintlich selbstständige Tätigkeit von den Behörden als Scheinselbstständigkeit eingestuft wird. Nach geltender Rechtsprechung kommt es vor allem auf die Merkmale der Weisungsunabhängigkeit, das Maß der Integration in die betriebliche Abläufe beim Endkunden sowie das Unternehmerrisiko an. Doch diese Kriterien lassen einen weiten Interpretationsspielraum zu, der in der Praxis zu teils widersprüchlichen Entscheidungen führt.
Widersprüchliche Praxis bei der DRV?
Umso brisanter sind nun Berichte, wonach die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) selbst Arbeitsverhältnisse praktiziert, die nach gängiger Lesart als Scheinselbstständigkeit oder verdeckte Arbeitnehmerüberlassung eingestuft werden könnten. Dabei geht es um externe Berater, die teils über lange Zeit hinweg für die DRV tätig werden, aber offiziell als Selbstständige oder Beschäftigte von Dienstleistern geführt werden.
In einem Beitrag des VGSD mit dem Titel „Mit zweierlei Maß – Ist bei der DRV erlaubt, was anderswo Scheinselbstständigkeit wäre?“ wird detailliert dargelegt, wie Berater offenbar über Jahre hinweg fast ausschließlich für die DRV tätig sein sollen, teilweise in Projekten eng eingebunden und den Weisungen des Auftraggebers unterworfen. Die Berliner Zeitung berichtete am 06. Dezember 2024 in einem Artikel über die Vorgänge bei der DRV Bund.
Stimmen aus der Selbstständigen-Community
Die Empörung zu den bekanntgewordenen Fällen bei der DRV Bund wird besonders in den Kommentaren unter dem Beitrag des VGSD deutlich. So schrieb Thomas L. kurz und prägnant:
Vollkommen unglaublich…
Thomas L. (05.12.2024, 13:08)
Hier verhöhnen Verwaltungsbeamte unseren Rechtsstaat. Ich bin fassungslos.
Leo N. (07.12.2024 18:31)
Andere wie Jan B. gehen noch einen Schritt weiter und sprechen von einem „Gefühl von Macht und Überlegenheit“ in den Diensträumen der DRV Bund:
Ja, das ist Doppelmoral pur. Man erhebt sich vom eigenen bequemen Bürosessel aus über andere, hart arbeitende Menschen, macht ihnen absurde Vorgaben, verfolgt und bestraft sie wie Kriminelle - und hält sich selbst nicht an die Regeln, denn man steht ja über dem Gesetz.
Jan B. (07.12.2024, 14:05)
Ähnlich drastisch äußert sich eine andere Person, die hinter dem Agieren der DRV „Willkür basierend auf staatlichem Machtmissbrauch“ wittert.
Politische Dimension und Reformbedarf
Ein Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes aus Schleswig-Holstein hat kommentiert:
Tja, und unsereins wird im Projekt im öffentlichen Dienst dazu gezwungen seine freien Mitarbeiter an einen Dienstleister "abzugeben", damit dieser dann diese einstellt und per ANÜ an den öffentlichen Auftraggeber entleihen kann (Kettengeschäfte im gegenseitigen Einvernehmen gehen ja auch nicht).
Da wird dann also wild abgeworben, um selbst als Dienstleister per ANÜ im Spiel bleiben zu können. Gleichzeitig wird aber dann in den Verträgen selbstverständlich eine nebenberufliche Freiberuflertätigkeit erlaubt - weil man selbst ja nur 2 Tage beim Kunden auslasten und somit selbst anstellen kann.
Ist das jetzt Sinn der ganzen Nummer? Da kann man nur noch lachend weglaufen - zum Glück sagen alle bei mir / uns - Ne, das macht mal schön alleine mit anderen, wir suchen uns andere Aufträge oder verlagern nach Dänemark.D.H. (06.12.2024 21:58)
Ein anderer Benutzer merkt eine Abwandungerung von Fachkräften ins Ausland an:
Dänemark freut sich, die Niederlande freuen sich, Portugal freut sich. Und so weiter.
Die Deutsche Rentenversicherung betreibt ein Wirtschaftsförderungsprogramm für unsere Nachbarländer.F.T. (07.12.2024 10:00)
Die Kritik aus Reihen der Betroffenen beschränkt sich nicht nur auf die DRV. Viele Selbstständige sehen ein grundsätzliches Problem im deutschen Sozialversicherungsrecht und fordern Klarheit über die Kriterien, die eine Selbstständigkeit ausmachen. Die Punkte „Weisungsgebundenheit“ und „Eingliederung in die betriebliche Organisation“ sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Insbesondere in digitalen Arbeitswelten sind Projekte oft nicht so eindeutig abzugrenzen, wie dies das Gesetz annimmt. Während klassische Rollenbilder zwischen Arbeit- und Auftraggeber in manchen Branchen klar getrennt sind, entstehen heute neue, flexible Beschäftigungsverhältnisse, die sich mit alten Definitionen nur schwer fassen lassen.
Zu dieser Erkenntnis kamen bereits die Richter des LSG Baden-Württemberg durch Urteil im Dezember 2021. Das Kriterium der Eingliederung im Rahmen agiler Arbeitsprozesse sei ihrer Ansicht nach nicht ohne weiteres passend und bedarf der Fortentwicklung an die Gegebenheiten der modernen Arbeitswelt. Wir haben fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem Urteil im Dezember 2024 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beim Referat IVa2 (Grundsatzfragen der Sozialversicherung) nach den von den Richtern geforderten Kriterien gefragt – und bis heute keine Antwort erhalten.
Das Bundessozialgericht (BSG) und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) orientieren sich mittlerweile auch an der Definition eines selbständigen Handelsvertreters nach HGB: „Selbständig ist, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann“. Zahlreiche Normen (z.B. DIN, EN, ISO, IEC) sowie mehr als 1700 Gesetze mit über 50.000 Paragraphen alleine auf der deutschen Bundesebene regulieren Abläufe, und übliche Servicezeiten des Staates im Zeitfenster von 08:00 bis 17:00 Uhr schränken die Arbeitszeit ein. Darüber hinaus gibt der Staat die Vertragsbedingungen beispielsweise im Bereich der IT-Dienstleistungen vor, die von den Dienstleistern einzuhalten sind.
Das „Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit“ vom 20. Dezember 1999, das von Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder unterzeichnet wurde, scheint mittlerweile in Vergessenheit geraten zu sein. Ist ein Weckruf staatlicher Institutionen erforderlich?
Auch die Politik hat den Reformbedarf erkannt. Politiker aus verschiedenen Parteien (SPD, CDU, Grüne, FDP) sprachen auf der große Online-Konferenz des VGSD darüber, wie das Statusfeststellungsverfahren und die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige reformiert werden sollen. Die Reform soll mehr Rechtssicherheit schaffen und bereits vor der geplanten Evaluation der Statusfeststellungsreform im Jahr 2025 Veränderungen anstoßen.
Dr. Andreas Lutz, Vorsitzender des VGSD, betrachtet zudem die politische Dimension dieses Problems:
Um eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen, ist eine Gesetzesänderung nötig. Diese müssen wir auf politischem Weg erreichen, was zugegebenermaßen schwierig ist, so lange das Arbeitsministerium von Minister/innen besetzt ist, die eine einseitig ausgerichtete Politik machen und die berechtigten Anliegen von gerne und freiwillig Selbstständigen ignorieren.
Dr. Andreas Lutz
Wird mit zweierlei Maß gemessen?
„Die DRV hat damit einen Präzedenzfall geschaffen!“ behauptet ein Kommentator unter dem Beitrag des VGSD. Und viele, die sich in den Kommentaren zu Wort melden, fühlen sich in ihrer Auffassung bestätigt: Sobald es sich um Projekte der DRV Bund oder anderer staatlicher Auftraggeber handelt, scheinen die strengen Kriterien zur Scheinselbstständigkeit zu wanken. Kai-Ulrik B. findet deutliche Worte:
Schon vorher hat es Hinweise darauf gegeben, dass die DRV bei eigenen Projekten es nicht so genau mit den selbstgezimmerten Kriterien für Scheinselbstständigkeit nimmt. Für mich ist das ein Skandal.
Kai-Ulrik B. (05.12.2024, 13:46)
Auch Hendrik B. sieht die Ungleichheit:
Einen besseren Präzedenzfall für zukünftige Auseinandersetzungen kann es ja eigentlich kaum geben.
Hendrik B. (05.12.2024, 13:29)
Gerade im IT-Bereich wird deutlich, wie das starre Konstrukt der Statusfeststellung nicht zum flexiblen Charakter agiler Projektarbeit passt.
Ein Kommentator namens „drvfreak“, der angibt, als externer Berater aktuell für die DRV Bund tätig zu sein, berichtet aus seiner Erfahrung, dass er zwar formal weisungsfrei arbeitet, jedoch dennoch bestimmte Vorgaben einhalten muss. Dass diese Praxis bei der DRV problemlos akzeptiert wird, während ähnliche Bedingungen in Privatunternehmen oft als Scheinselbständigkeit gelten, sorgt bei vielen für Empörung.
Auswirkungen für die Praxis
Die Folgen für Betroffene sind gravierend. Ein anonymer Kommentator unter dem Beitrag des Berichts berichtet, dass er oder sie in ihrem Fall eine Nachforderung von über 100.000 Euro an die DRV zahlen musste – Geld, das ihrer eigenen Altersvorsorge fehlt:
Meinem kleinen Laden wurde genau von dieser Institution ‚Scheinselbständigkeit‘ in mehreren Fällen unterstellt. Eine Forderung von über 100.000 € habe ich bezahlen müssen. […] Und dann lese ich das hier?! Ich bin entsetzt und sprachlos.
Kommentator T. (05.12.2024 19:00)
Solche Erfahrungen sind kein Einzelfall. Mehrere Kommentatoren sprechen von Insolvenzen, von finanzieller Unsicherheit und davon, dass sie ihre selbstständige Tätigkeit einschränken oder ganz aufgeben mussten.
Was bedeutet das für Selbstständige? Rechtssicherheit ist in Deutschland – trotz aller Bemühungen – nach wie vor nicht garantiert. Wer keinen Freibrief von der DRV hat, läuft immer Gefahr, dass eine vermeintlich sichere Selbstständigkeit nachträglich als reguläres Arbeitsverhältnis deklariert wird. Doch auch dann ist die Gefahr nicht gebannt, denn eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung könnte lauern, die bei Aufdecken mit einer Geldbuße von bis zu 30.000 Euro bedroht ist. Dass ausgerechnet die zuständige Behörde selbst nicht mit hundertprozentig nachvollziehbaren Regeln verfährt, nährt Ängste in der Branche.
„Ich wünsche mir klare Regeln, die uns vor Überraschungen schützen“, sagt uns Maria K., die als Designerin arbeitet. „Wir brauchen endlich eine moderne Definition von Selbstständigkeit. Und wenn der Staat als Auftraggeber auftritt, sollte er ein Vorbild sein.“
Die Suche nach einem einheitlichen Maßstab
Tatsächlich scheint es Zeit für eine umfassende Reform. Gerade die rasante Entwicklung moderner Arbeitsmodelle, etwa im Bereich der Kreativ- und IT-Branche, macht deutlich, dass das starre Raster der Scheinselbstständigkeit nicht mehr zeitgemäß ist. Immer mehr Akteure fordern eine zukunftsorientierte Gesetzgebung, die Rechtssicherheit schafft, ohne neue Formen der Arbeit zu behindern.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund könnte dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie Offenheit für neue Arbeitsrealitäten beweist und ihre Prüfkriterien transparenter gestaltet. Gleichzeitig, so der Appell vieler Betroffener, müsse die Behörde ihre eigene Praxis reflektieren. Zweifelsfrei lässt die DRV Bund Fremdpersonal agil in Projekten arbeiten – „modern„, sagt uns ein Mitarbeiter der DRV Bund – es ist damit auch an der Zeit, die Regeln für Statusfeststellung offiziell zu modernisieren.
Immer wieder fordern Betroffene endlich klare, verlässliche Kriterien. Der Kommentator Carsten zitiert dazu treffend den US-Autoren Francis M. Wilhoit:
Sozialgesetzgebung schützt die Verwaltung, bindet sie aber nicht, während sie Betroffene bindet, aber nicht beschützt
US-Autor "Francis M. Wilhoit"
Eine konkrete rechtliche Reform, in der Kriterien eindeutig geregelt sind, wäre eine Entlastung für beide Seiten: Selbstständige könnten ihre Geschäftsmodelle sicherer planen, Auftraggeber würden sich nicht vor drakonischen Nachzahlungen fürchten müssen, und die DRV sowie der Zoll könnten sich auf wirkliche Missbrauchsfälle konzentrieren.
Doch der Gesetzgeber zeigt sich seit Jahren zögerlich, was eine grundlegende Reform angeht. Sebastian S. kritisiert die bisherige „absolute Bankrotterklärung“ der Politik:
Das ist eine absolute Bankrotterklärung für die bisherigen Vorgehensweisen. Wenn also über so viele Jahre politisch offensichtlich kein Interesse besteht, an dem Thema etwas zu ändern, dann bleibt doch nur der Rechtsweg. Und wenn es eben Jahre dauert.
Sebastian S. (05.12.2024, 19:09)
Ausblick
Der aktuelle Fall zeigt, dass sich etwas ändern muss. Die Debatte um das Verhalten der DRV Bund, die im eigenen Haus umfangreich Externe beschäftigt, während andere dafür hart bestraft werden, ist mehr als nur ein Randphänomen. Sie rüttelt am Grundvertrauen in die Fairness staatlicher Institutionen.
Es wird nun entscheidend sein, den Begriff der „freien Dienstleistung“ klar von der Arbeitnehmerüberlassung zu unterscheiden und den Begriff der „Selbständigkeit“ neu zu definieren, damit sowohl Unternehmen als auch selbständige Fachkräfte – insbesondere im IT-Bereich – ihre Arbeit unbesorgt und ohne die Gefahr von Rufschädigung oder Nachforderungen ausführen können.
Zugleich braucht es mehr Transparenz über die internen Vergabepraxis-Regeln der DRV. Die politisch Verantwortlichen stehen hier in der Pflicht, eine zeitgemäße Gesetzgebung zu schaffen, die dem modernen Arbeitsmarkt gerecht wird und nicht je nach Auftraggeber unterschiedliche Maßstäbe anlegt.
Solange die Reform aber ausbleibt, bleibt für die Betroffenen das Risiko hoch – vielleicht nun auch für die Direktoren der DRV Bund, die die internen Vorgänge in ihrem eigenen Haus zu verantworten haben. Wer vor dem Problem steht, kann sich zwar rechtlich wehren, doch Verfahren dauern mitunter Jahre. Viele trauen sich nicht, öffentlich aufzumucken, aus Angst vor Repressalien und tiefen finanziellen Einschnitten. Der Fall der DRV-eigenen „agilen Projekte“ könnte dennoch zum Wendepunkt werden, denn wie Kai-Ulrik B. konstatiert: „Für mich ist das ein Skandal.“
Ob aus diesem Skandal ein echter Anstoß zur Reform wird oder ob auch hier nur ausgesessen wird – das liegt nun an Politik, Medien und natürlich an den Betroffenen selbst, die sich immer weniger mit unklaren Zuständen zufriedengeben.