Innovation oder Doppelmoral?
Wer einen Blick in die Welt der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) wagt, stößt auf ein Bild, das zunächst so gar nicht zu den gewohnten Klischees einer Behörde passen mag: Iterative Sprint-Planungen, agile Projektteams und eine fast schon Start-up-ähnliche „Community Lab“-Mentalität.
In einer Rede vor der Vertreterversammlung (Redebeitrag, Präsentation): betonte ein Mitglied des Direktoriums der DRV Bund in München am 10. Juni 2024: „‚Agilität‘ ist ein Modebegriff, ja, aber eben auch eine neue Arbeitsweise, auf die sich ein genauerer Blick lohnt.“ Er stellte klar, dass agile Methoden längst Einzug in viele Bereiche der Rentenversicherung gehalten haben, wobei „Fehler zu Erkenntnissen führen, nicht zu ‚Strafen‘“. Iteratives Vorgehen, „Sprints“, selbstorganisierte Teams und ein regelmäßiges Feedback seien inzwischen „Markenzeichen“ in ausgewählten Großprojekten der DRV Bund – und man spüre „das veränderte Mindset“ beinahe überall.
Agilität als Richtschnur – aber nicht für alle?
An der Oberfläche ist dieses Bekenntnis zur Flexibilität und Innovationsfreude beeindruckend. Schaut man jedoch genauer hin, zeigt sich ein bemerkenswerter Widerspruch: Die DRV Bund nimmt zuweilen genau jene Verfahrensweisen unter die Lupe, die sie selbst mit Vorliebe nutzt. Konkret geht es um den Einsatz von Fremdpersonal. In der Privatwirtschaft gelten bei einem ähnlich gelagerten Umgang mit selbstständigen IT-Fachkräften oft strenge Kriterien, die über das Statusfeststellungsverfahren der Rentenversicherung eine vermeintliche Scheinselbstständigkeit nach sich ziehen können. Wenn etwa ein externer IT-Spezialist in die Abläufe eines Unternehmens eingebunden ist, an täglichen „Daily Standups“ teilnimmt, in interne Kollaborationstools gezwungenermaßen eingebunden wird und Arbeitszeiten genau dokumentieren muss, wird die DRV Bund regelmäßig hellhörig – und stuft dies in vielen Fällen als klares Indiz einer abhängigen Beschäftigung ein.
Genau dort tritt nun eine offenkundige Doppelmoral zutage: Die DRV Bund arbeitet selbst „agil“ mit Fremdpersonal zusammen und schließt millionenschwere Rahmenverträge mit Dienstleistungsunternehmen ab. Diese Konstellation ist keineswegs ungewöhnlich – in der IT-Branche werden Großprojekte fast immer durch Kombinationen eigener Fachleute und externer Spezialisten geschultert. Doch die Rentenversicherung verfolgt hier eine rechtlich spitzfindige Linie: Laut Auskunft der Bundesregierung (vgl. Bundestag Drucksache 20/14844) handele es sich bei diesen Verträgen um „Dienstverträge nach EVB-IT Dienstleistung“. Das bedeutet, die DRV Bund erklärt formal, dass sie dort kein personalwirtschaftliches Weisungsrecht ausübt, sondern eine Dienstleistung einkauft, woraus angeblich keine Arbeitnehmereigenschaft der externen Kräfte resultiert.
Große Summen, großer Spagat
Dass es sich um erhebliche Summen handelt, ist längst bekannt: Die DRV Bund schloss neue Rahmenverträge über insgesamt bis zu 414 Millionen Euro ab (Laufzeit: 48 Monate plus zweimal 12 Monate Verlängerungsoption). Diese externen IT-Kräfte sollen an Standorten in Berlin, Würzburg und bundesweit eingesetzt werden, wobei mindestens 20 Prozent vor Ort und rund 80 Prozent „remote nach vorheriger Absprache“ zu leisten sind. In diesen Verträgen – aufgeteilt in fünf Lose, unter anderem zu IBM-, SAP- und Web-Entwicklungen – wird definiert, wie eng Fremdpersonal in die Abläufe der DRV Bund eingebunden wird: verpflichtende Nutzung hausinterner Tools wie Jira oder Confluence, regelmäßige Abstimmung, agiles Vorgehen mit Sprints und direkte Kooperation mit DRV-Beschäftigten.
Besonders brisant: Aus der Privatwirtschaft kennt man genau diese Merkmale als Risikofaktoren einer vermeintlichen Scheinselbstständigkeit. Schließlich listet ein typischer Statusbescheid der DRV Bund sämtliche Aspekte auf, die auf eine Einbindung in das Weisungsgefüge hindeuten. „Sie nahmen an Besprechungen beim Kunden teil“ oder „Sie unterlagen Einschränkungen durch Vorgaben des Endkunden“ werden in dem Bescheid einer Privatperson – ein anonymer Informant – als Argumente für eine abhängige Beschäftigung herangezogen. Genauer heißt es dort zum Beispiel: „Die Einbindung des Auftragnehmers in Entscheidungsprozesse in bestimmten Tätigkeitsbereichen – wie bei Diensten höherer Art üblich – schließt das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung nicht aus.“ Im Ergebnis erkennt derselbe Rentenversicherungsträger hier ein Arbeitsverhältnis – und fordert Nachzahlungen von Sozialbeiträgen.
„Fehler führen zu Erkenntnissen, nicht zu Strafen“?
In der Rede vor der Vertreterversammlung lobt die DRV Bund die agile Arbeitsweise als Erfolgsrezept und hebt besonders den offenen und iterativen Charakter hervor: Man wolle „schneller und flexibler auf die Bedarfe unserer Kund*innen eingehen“, so der Direktor. Teams mit „hohem Praxisbezug“ werden gebildet, „sogenannte Sprints“ finden statt, und man arbeitet cross-funktional. Entscheidend sei, dass die „Zufriedenheit unserer Versicherten, Rentnerinnen und Rentner sowie unserer Mitarbeitenden im Zentrum“ stehe, und dass ein „Fehlermanagement ohne ‚Strafen‘“ etabliert werde. All das klingt wie ein Musterbeispiel für moderne Arbeitswelten. Doch wer die entsprechenden Statusbescheide der DRV Bund kennt, weiß, dass solche Kollaborationsformen – insbesondere tägliche Abstimmungen, feste Einbindung in die Teamprozesse, Software- und Zeitvorgaben – im Zweifelsfall eine feste Weichenstellung in Richtung sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder eine Arbeitnehmerüberlassung sein können.
Ein simples Beispiel: Agiles Arbeiten läuft oft nach der Scrum-Methode ab. Da gibt es den „Scrum Master“, der den Rahmen setzt und Hindernisse ausräumt, und den „Product Owner“, der fachliche Prioritäten vorgibt. Das Team plant die tägliche Umsetzung in sogenannten „Daily Standups“. In vielen Projekten – ob bei kleineren Firmen oder großen Konzernen – wird das so gelebt. Doch nimmt man die strenge Auslegung eines Statusbescheids der DRV Bund, sieht man rasch, dass es genau diese Mechanismen sind, die die Möglichkeit eröffnen, Fremdpersonal als abhängig Beschäftigte einzustufen. Begründung: Bei „regelmäßigen Meetings“ und einer genauen Dokumentationspflicht in Jira oder anderen Tools handle es sich um ein direktes Weisungsrecht, das der Auftraggeber ausübt. Die Stunden, die man im Tätigkeitsnachweis erfasst, die exakte Abnahme pro Sprint oder die Pflicht, an einem bestimmten Ort oder Zeitfenster verfügbar zu sein, kann als Indiz für eine „verfeinerte Weisungsgebundenheit“ herangezogen werden.
Zwischen Dienstvertrag und Arbeitnehmerüberlassung
Dabei ist grundsätzlich nichts auszusetzen, wenn der öffentliche Sektor auf Dienstverträge setzt und die Vergabe eines Projekts an externe Firmen ausschreibt. Es ist zudem gang und gäbe, dass Dienstleister dann Fachkräfte entsenden, die exklusiv (oder zumindest vorübergehend) für einen Auftraggeber tätig werden. Auch eine teils unklare Abgrenzung zwischen Werk- oder Dienstvertrag und verdeckter Arbeitnehmerüberlassung kommt immer wieder vor – nicht nur bei der DRV Bund, sondern bei vielen öffentlichen Stellen. Der Unterschied: Wenn ein Privatunternehmen sich einer ähnlichen Konstruktion bedient und die Rentenversicherung dies prüft, wird sehr schnell eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder eine Arbeitnehmerüberlassung unterstellt.
So stößt es für Außenstehende auf Unverständnis, dass „agiles Arbeiten“ im privaten Sektor ein potenzieller Indikator für Scheinselbstständigkeit sein kann, während die DRV Bund dieses gleichermaßen mit externen Kräften praktiziert – nur eben unter dem Titel „Dienstvertrag“. Eine Parlamentsanfrage (Drucksache 20/14844) brachte in diesem Zusammenhang keine wirkliche Klarheit: Die Bundesregierung verweist lediglich auf das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) als Rechtsaufsichtsbehörde, die den Sachverhalt „aufsichtsrechtlich überprüfe“. Ob dabei ein Widerspruch zu den drakonischen Statusentscheidungen für externe IT-Kräfte in der Privatwirtschaft thematisiert wird, lässt die Antwort offen.
Von der „Community Lab“-Idee bis zum Multi-Millionen-Rahmenvertrag
In ihrer Rede preist die DRV Bund ihre verschiedenen Innovationsbereiche an: Ob das neu geschaffene „Community Lab“ als Erprobungsort, in dem Prozesse und IT-Entwicklungen gemeinsam getestet werden, ob das Projekt „FLAM“ zur Flexibilisierung der Arbeitsmengen oder das Großprojekt „rvEvolution“ zur Modernisierung des IT-Kernsystems – sämtliche Vorhaben arbeiten mit agilen Prinzipien, Sprints und interdisziplinären Teams. Dass dafür externe Verstärkung notwendig ist, wird gar nicht erst bestritten: „Aktuell entwickeln die Projektmitglieder interdisziplinär mit agilen Methoden die neue Struktur […] um diese dann iterativ in die Praxis zu überführen“, hieß es dazu. Auch bei der IT-Bebauungsplanung, im „Eingangsmanagement“, bei der SAP-Umstellung auf S/4 HANA oder bei IBM-basierten Lösungen werden Fachkräfte gesucht. Dass in diesen Konstellationen zahlreiche Einzelmerkmale auftreten – tägliche Abstimmungen, enge Zusammenarbeit mit festangestellten DRV-Beschäftigten, Vorgaben zu Dokumentation und Berichterstattung –, würde im privaten Sektor vermutlich schnell die Alarmglocken im Statusfeststellungsverfahren läuten lassen.
Ein Insiderbericht und die Forderung nach Klarheit
Ein anonymer Informant weist darauf hin, dass die private Wirtschaft hart bestraft werde, wenn sie externe Kräfte bei vergleichbarer Einbindung beschäftige. Er selbst habe erfahren, wie ein Statusbescheid seinem Auftraggeber plötzlich Beiträge für eine angeblich abhängige Beschäftigung aufbürdete. Dass die DRV Bund nun ihrerseits agile Strukturen etabliere und externe Personen in offenbar ähnlich enger Weise in die tägliche Arbeit integriert, empfindet er als Ungerechtigkeit – eine „Zweierlei-Maß-Praxis“, wie es in einschlägigen Branchenforen heißt.
Die Bundesregierung verweist in diesem Konflikt formal auf das BAS, das die Vorgänge rechtlich prüfe. Bislang ist öffentlich nicht bekannt, dass die DRV Bund in diesen Projekten eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung oder Scheinselbstständigkeit konstatiert hätte. Vielmehr betont man, die Dienstverträge entsprächen dem gängigen EVB-IT-Standard für öffentliche Einrichtungen und seien auf rechtskonformer Grundlage zustande gekommen.
Agilität ja, aber bitte konsistent
Was bleibt, ist ein Konflikt, der exemplarisch verdeutlicht, wie schwer die Abgrenzung zwischen freier Mitarbeit und abhängiger Beschäftigung in agilen Projekten ist. Agiles Arbeiten bedeutet nun einmal, sich in Teams eng abzustimmen, regelmäßig zu kommunizieren, am gemeinsamen Produkt zu feilen und es in kurzen Zyklen zu überprüfen. Diese Herangehensweise erfordert typischerweise Festlegungen zu Arbeitszeiten, Meetings und Tools – all dies kann nach Lektüre üblicher DRV-Statusbescheide gegen ein freies Dienstverhältnis und damit für abhängige Beschäftigung (Scheinselbständigkeit) oder Arbeitnehmerüberlassung sprechen.
Dass gerade die DRV Bund sich dieser Praxis intensiv bedient, während in der Privatwirtschaft oft ähnliche Konstellationen beanstandet werden, bringt viele Betroffene in Rage. Eine eindeutige gesetzliche Klarstellung, wann agiles Arbeiten noch im Rahmen eines echten Dienst- oder Werkvertrags stattfindet und wann eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ist überfällig. Wer digitale Projekte managt, weiß, dass sich die Beteiligten – ob intern oder extern – in agilen Prozessen stets vernetzen müssen. Genau das wollte die DRV Bund in ihrem Auftritt vor der Vertreterversammlung auch öffentlichkeitswirksam präsentieren: „Wir betrachten agile Vorgehensweisen als Instrumente innerhalb des beständigen und stabilen Rahmens unseres Hauses“, lautete ein zentrales Fazit. Dort fügte der Direktor mahnend hinzu: „Die Auswahl unserer Methoden bedarf also immer einer genauen Abwägung.“
Ebenso könnte man sagen, dass es bei der Bewertung externer Mitarbeit einer „genauen Abwägung“ bedarf, und zwar ohne Doppelmoral. Solange das System aber so gestaltet bleibt, dass der öffentliche Auftraggeber seine Projekte selbstbewusst als „Dienstverträge“ bezeichnet und dadurch seine externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor sozialversicherungsrechtlichen Folgen schützt, die er im Privatsektor in ähnlichen Fällen selbst geltend machen würde, wirkt das alles wie ein systemischer Widerspruch. Ob das BAS in seiner laufenden Prüfung hier zu Konsequenzen gelangt, bleibt abzuwarten.
Agilität als Fortschritt – oder als Widerspruch?
Gleichzeitig jedoch steht die DRV Bund in der Kritik, wenn es darum geht, dieselben agilen Merkmale in externen Projekten der Privatwirtschaft zum Anlass zu nehmen, selbstständig agierende IT-Fachkräfte als Arbeitnehmer zu klassifizieren. Welche Argumente am Ende stichhaltiger sind – oder wie sich die Bundesregierung und das BAS hierzu positionieren werden –, ist noch unklar. Klar ist nur: Solange die DRV Bund Agilität als Fortschritt preist, dabei aber in einer ähnlich strukturierten Projektrealität anderen Unternehmen Nachzahlungen auferlegt, steht der Vorwurf der Doppelmoral unausweichlich im Raum. Und das wirft Fragen auf, die dringend nach einer transparenten Antwort verlangen.