Fragwürdige Bindung von Fremdpersonal bei der Deutschen Rentenversicherung

junger Mann entwickelt eine Software an einem Computer mit mehreren Bildschirmen in einem modernen Büro
Junger Mann entwickelt eine Software an einem Computer: © iStock / gorodenkoff
Eine aktuelle Vergabe der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) wirft Fragen auf: Der EVB-IT Dienstvertrag zur geplanten Einführung einer Containerplattform enthält eine Klausel, die Personalwechsel stark einschränkt. Demnach darf der Auftragnehmer nur unter bestimmten Bedingungen und mit Genehmigung der DRV Bund Projektmitarbeiter austauschen, wodurch der Dienstleister das Risiko unflexibler Personalbindung trägt. Neben der Frage, wie rechtlich zulässig diese Klausel ist, bleibt offen, ob sie nicht in eine Grauzone der Arbeitnehmerüberlassung führt.

Recherchen zu einer Vergabe der Deutschen Rentenversicherung Bund

Im September 2023 wurden wir auf eine Vergabe der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) in Berlin aufmerksam, bei der eine Containerplattform (Cloudlösung) produktiv aufgebaut werden soll. Wir haben daraufhin die öffentlichen Vergabeunterlagen heruntergeladen und geprüft.

Am 11. Dezember 2023 wurde ein Vertrag mit einem Wirtschaftsteilnehmer geschlossen. Das Ergebnisdokument kann im Tenders Electronic Daily (TED) der Europäischen Union (EU) öffentlich eingesehen werden:

https://ted.europa.eu/de/notice/-/detail/757365-2023

Nicht die Vergabe an einen Wirtschaftsteilnehmer selbst, sondern der während der Wettbewerbsphase öffentlich einsehbare EVB-IT Dienstvertrag mit einer Klausel zur Bindung von Fremdpersonal ist Gegenstand dieses Artikels.

Austausch von Personen nur aus wichtigem Grund zulässig

Die aus unserer Sicht fragwürdige Textpassage findet sich im zweiten Absatz der Ziffer 15.2 eines EVB-IT Dienstvertrages:

15.2 Ergänzend zum Austausch von Personen:
Zusätzlich zu den ergänzenden Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Dienstleistungen hat der Auftraggeber das Recht den Austausch des Mitarbeiters auf Kosten des Auftragnehmers zu verlangen, sollte der von dem Auftragnehmer eingesetzte Mitarbeiter nicht die erforderlichen IT-Kenntnisse nachweisen können.

Der Austausch von Personen seitens des Auftragnehmers ist nur aus zwingendem Grund zulässig. Dieser ist schriftlich darzulegen und vom Auftraggeber zu genehmigen. Kein zwingender Grund liegt vor, wenn diese Personen für ein anderes Projekt/Aufgabe tätig werden sollen, es sei denn dies dient den Interessen des Auftraggebers.

Ein Mitarbeiterwechsel aus zwingendem Grund ist unter folgenden formalen Voraussetzungen zulässig:

  • der Ersatzmitarbeiter muss mindestens über die gleiche Qualifikation verfügen,
  • der Auftragnehmer muss den vorgesehenen Mitarbeiterwechsel dem Auftraggeber mindestens sechs Wochen vor geplantem Austausch anzeigen. Dies erfolgt schriftlich unter Einreichung eines Mitarbeiterprofils.
Im Falle eines Mitarbeiterwechsels werden die Einarbeitungszeiten in angemessenem Umfang dem Auftragnehmer zur Last gelegt.

Auch wenn die Klausel vermutlich dazu dient, die Kontinuität und Qualität der Dienstleistungen zu gewährleisten und die beruflichen Pflichten der Beteiligten zu regeln, erscheint es übermäßig streng, dass der Auftragnehmer einen Personalwechsel durch den Auftraggeber genehmigen und dafür einen zwingenden Grund angeben muss.

Besonderes Augenmerk bekommt zudem, dass Personen während ihres Projekteinsatzes bei der Deutschen Rentenversicherung nicht für andere Projekte oder Aufgaben tätig werden dürfen, es sei denn, dies dient den Interessen der Deutschen Rentenversicherung selbst.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im März 2023 über den Einsatz von „freien Mitarbeitern“ in einer Anwaltskanzlei entschieden, die unter anderem für die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedurften (BGH, Urteil vom 08.03.2023, Az. 1 StR 188/22, Rn. 3, Seite 5 ff.). Im vorliegenden Fall bei der Deutschen Rentenversicherung handelt es sich zwar um IT-Projektarbeit, doch auch hier darf das Fremdpersonal nicht anderweitig tätig werden, d.h. keinem anderen Projekt oder anderen Aufgaben nachgehen. Interessant wäre daher sicherlich, wie ein Bundesgericht die Praxis der Deutschen Rentenversicherung bewerten würde.

Beispiele für zwingende Gründe für einen Personalwechsel

Nachfolgend sind einige Beispiele für zwingende Gründe aufgeführt, die einen Personalwechsel durch den Auftragnehmer erforderlich machen können:

  • unethische Praktiken
  • gesundheitliche Probleme
  • persönliche Verpflichtungen
  • toxische Arbeitsumgebung
  • rechtliche Bedenken
Wenn das vom Auftragnehmer eingesetzte Personal das Projekt verlassen möchte, scheint dies nur durch einen Wechsel des Arbeitgebers möglich zu sein. In einer schriftlichen Stellungnahme der DRV Bund wird uns dies sogar als eine mögliche Option genannt. Ansonsten könnte das Personal z.B. für längere Zeit „erkranken“, um das Projekt zu verlassen.

Ausschluss von Arbeitnehmer­überlassung in den Bieterfragen

Während der Wettbewerbsphase konnten Interessenten Bieterfragen per Email an die DRV richten, die beantwortet und in einem Dokument zusammengefasst auf der Vergabeplattform der DRV Bund öffentlich einsehbar waren.

Im Folgenden werden zwei Fragen von Bietern und die Antworten der DRV zu den ANÜ-Kriterien aus dem Dokument zitiert (Seite 5, Seite 6):

Frage Bieter: Kann der Bieter davon ausgehen, dass keine Arbeitnehmerüberlassung / Personalgestellung erfolgt?

Antwort DRV: Ja

Eine weitere Bieterfrage bezieht sich darauf, ob die Leistungserbringung durch beliebige Mitarbeiter mit der geforderten Qualifikation erfolgen kann:

Frage Bieter: Kann der Bieter zur Vermeidung von verdeckter Arbeitnehmerüberlassung davon ausgehen, dass grundsätzlich nur die Leistungserbringung durch beliebige Mitarbeiter geschuldet ist, die über die geforderten Qualifikationen verfügen, der Auftragnehmer in der Disposition des Personals frei bleibt und keine arbeitsrechtlichen Weisungen erfolgen?

Antwort DRV: Die Freiheit der Personaldisposition des Bieters ist grundsätzlich gegeben, sie bewegt sich jedoch in den Grenzen der Bestimmungen des EVB-IT Dienstvertrages Ziffer 12 Kapitel "Ergänzend zum Austausch von Personen" (vorrangig) und ergänzend Ziffer 8 EVB-IT Dienstleistungs-AGB.

In der Antwort wird auf den EVB-IT Dienstvertrag verwiesen. Das uns vorliegende Dokument enthält abweichend im Kapitel 15.2 eine Ergänzung zum Austausch von Personen, welches bereits im vorherigen Abschnitt adressiert wurde.

Ein Blick in das Arbeitnehmer­überlassungsgesetz (AÜG)

Werfen wir zunächst einen Blick in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zur rechtlichen Definition der Überlassung von Arbeitnehmern und den Kriterien dafür.

(1) Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung überlassen (Arbeitnehmerüberlassung) wollen, bedürfen der Erlaubnis. Arbeitnehmer werden zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen. Die Überlassung und das Tätigwerdenlassen von Arbeitnehmern als Leiharbeitnehmer ist nur zulässig, soweit zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis besteht. Die Überlassung von Arbeitnehmern ist vorübergehend bis zu einer Überlassungshöchstdauer nach Absatz 1b zulässig. Verleiher und Entleiher haben die Überlassung von Leiharbeitnehmern in ihrem Vertrag ausdrücklich als Arbeitnehmerüberlassung zu bezeichnen, bevor sie den Leiharbeitnehmer überlassen oder tätig werden lassen. Vor der Überlassung haben sie die Person des Leiharbeitnehmers unter Bezugnahme auf diesen Vertrag zu konkretisieren.

(1b) Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. [...]

Folgende Punkte sind in diesem Zusammenhang relevant:

  1. Weisungsgebundenheit: Bei einer Arbeitnehmerüberlassung arbeiten die überlassenen Arbeitnehmer weisungsgebunden im Betrieb des Auftraggebers. Wenn der Auftraggeber nicht nur das Ergebnis der Arbeit, sondern auch die Art und Weise der Ausführung der Arbeit bestimmt, spricht dies für eine Arbeitnehmerüberlassung.

  2. Eingliederung in den Betrieb: Arbeitnehmerüberlassung liegt oft vor, wenn die überlassenen Arbeitnehmer in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingegliedert sind, d.h. sie arbeiten wie eigene Arbeitnehmer des Auftraggebers.

  3. Verantwortung für die Arbeitsleistung: Bei einer echten Dienst- oder Werkleistung trägt der Auftragnehmer die Verantwortung für die Erbringung der Leistung. Bei der Arbeitnehmerüberlassung übernimmt der Auftraggeber die Verantwortung für die von den überlassenen Arbeitnehmern erbrachte Arbeitsleistung.

  4. Austausch der Arbeitskräfte: Der zitierte Vertragstext der Deutschen Rentenversicherung schränkt den Austausch der Arbeitskräfte stark ein und gibt dem Auftraggeber ein Mitspracherecht. Dies kann ein Indiz für eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers sein, was für eine Arbeitnehmerüberlassung spricht.

Abklärung mit der Deutschen Rentenversicherung zum EVB-IT Dienstvertrag

Am 23. Mai 2024 haben wir die Vergabestelle der DRV Bund angeschrieben und um schriftliche Stellungnahme gebeten, wie das Kapitel 15.2 unter Berücksichtigung der Bieterfragen und Antworten rechtskonform umgesetzt wird.

Da unsere E-Mail nach einer angemessenen Frist von zwei Wochen unbeantwortet blieb, haben wir am 06. Juni 2024 erneut Kontakt mit der Vergabestelle der Deutschen Rentenversicherung aufgenommen und freundlich an die erbetene Stellungnahme erinnert.

Doch auch dieses Erinnerungsschreiben blieb unbeantwortet, sodass wir uns am 26. Juni 2024 schriftlich per E-Mail an den u. a. für die Bereiche IT und Vergabestelle zuständigen Direktor der DRV Bund gewandt haben. Dieser leitete unser Anliegen weiter und bestätigte uns dies.

Am 12. Juli 2024 erhielten wir schließlich von einem leitenden Angestellten der Vergabestelle der DRV Bund die von uns erbetene schriftliche Stellungnahme zu der vertraglichen Personalbindung aus dem EVB-IT Dienstleistungsvertrag (siehe Stellungnahme). Einige Aussagen mögen überraschen, jedenfalls für einen Sozialversicherungsträger.

Vorranging geht es uns um folgende Textpassage:

Der Austausch von Personen seitens des Auftragnehmers ist nur aus zwingendem Grund zulässig. Dieser ist schriftlich darzulegen und vom Auftraggeber zu genehmigen. Kein zwingender Grund liegt vor, wenn diese Personen für ein anderes Projekt/Aufgabe tätig werden sollen, es sei denn dies dient den Interessen des Auftraggebers.

Der Stellungnahme kann entnommen werden, es sind  „lediglich moderate Einschränkungen“ und „ein Austausch von Personal [ist] möglich, wenn Consultants bspw. [ihr] Unternehmen verlassen„.

Diese Aussagen der DRV Bund, also einen der Sozialversicherungsträger, schockieren uns. Wir vertreten die Ansicht, dass Consultants bei Ihrem Arbeitgeber gerade nicht kündigen müssen, um sich aus einem Projekt bei einem Auftraggeber vertraglich „befreien“ zu können, insbesondere wenn ein Einsatz bei einem Auftraggeber über einen sehr langen Zeitraum dauern kann (hier: bis zu ca. 2 Jahre).

Weiterhin heißt es in dem Schreiben der DRV Bund: „Die Einarbeitungsaufwände in den spezifischen Umgebungen der DRV Bund [sind] in der Regel außerordentlich hoch„. Die Rede ist auch von einem „Kompetenzverlust“ bei einem „Personalwechsel„.

Laut Ansicht der DRV Bund soll keine Arbeitnehmerüberlassung vorliegen, was verwundert.

Der Stellungnahme kann auch entnommen werden, dass unsere Hinweise zur vertraglichen Personalbindung für die Zukunft aufgegriffen und gewürdigt werden. Die E-Mail mit der Stellungnahme ging uns am 12. Juli 2024 zu. In einer anderen Vergabe, in der es um die Bereitstellung und den Betrieb einer Cloudlösung geht, die etwa zwei Wochen später, am 31. Juli 2024, veröffentlicht wurde, finden wir ebenfalls die gleiche Klausel zur Personalbindung im EVB-IT Cloudvertrag. Offensichtlich wurden unsere Hinweise doch nicht aufgegriffen.

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