Ein wachsender Beratungsmarkt in der Sozialversicherung
Bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) summieren sich seit einigen Jahren externe Beratungsleistungen zu einer kaum vorstellbaren Größenordnung. Aktuelle Rahmenverträge aus den Jahren 2020 und 2023 sehen insgesamt annähernd zwei Millionen Beraterstunden vor. Allein die im April 2023 abgeschlossene Vereinbarung über „Beratungsdienstleistungen und Projektunterstützung“ sieht 1.165.880 Stunden für Themen von IT-Strategie bis Unternehmensentwicklung vor. Zählt man frühere oder parallele Projekte wie die sogenannte „Mindful Transformation“ hinzu, bei der ein konstantes, fünfköpfiges Team über vier Jahre lang begleitet, steigt die Bilanz weiter an.
Wer sich durch die zugehörigen Vergabeunterlagen liest, stößt neben klassischen IT-Support- oder Kommunikationsaufgaben auf zahlreiche Projekte, die unter dem Schlagwort „strategische Beratung“ subsumiert werden. Der Bundesrechnungshof (BRH) hat diesen Bereich besonders ins Visier genommen und kritisiert eine Reihe von Missständen. Im Zentrum: die teils zweifelhafte Notwendigkeit der Beratung, die vage Definition der Ziele, mangelnde Wirtschaftlichkeitsprüfungen und etliche Vergaben, die immer wieder an die gleichen Unternehmen gingen.
Kritische Befunde des Bundesrechnungshofs
Der Bundesrechnungshof monierte in seinem jüngsten Bericht, dem eine umfassenden Prüfung vorausging, dass es bei der DRV Bund häufig keine belastbare Bedarfsanalyse vor der Beauftragung gab. Beratungsverträge über mehrere Hunderttausend Euro seien vergeben worden, ohne klar zu definieren, wofür sie eigentlich benötigt würden oder wie die Ergebnisse in der Verwaltungspraxis umzusetzen seien. Besonders drastisch erscheint das Beispiel eines 765.000-Euro-Auftrags für die Erstellung einer vermeintlichen „Geschäftsordnung“. Das Resultat: Ein knapp zehnseitiges Dokument, dessen Mehrwert für die Praxis nach Ansicht der Prüfer kaum erkennbar sei – zumal es intern unter Schlagworten wie „Schweinerunden“ oder „Surfhören“ präsentiert wurde.
Der BRH sieht in der gebetsmühlenartigen Weitervergabe an dieselben Beratungsunternehmen mehrere Risiken. Zum einen droht der Verlust des „Blicks von außen“, der externen Experten ihren eigentlichen Wert verleiht. Zum anderen bergen Mehrfachbeauftragungen bei Millionenbudgets erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Gefahren: Das Vergaberecht sieht klar vor, dass auch öffentlich-rechtliche Körperschaften ihren Bedarf im Wettbewerb ausschreiben müssen. Weicht man zu oft auf vermeintliche „Alleinstellungsmerkmale“ aus, gerät man schnell in Erklärungsnot.
Zudem offenbaren manche Fälle eine Befangenheit im Auswahlprozess. So hätten sich Führungskräfte laut Prüfbericht ausdrücklich „persönlich bekannte Berater“ gewünscht. Eine solche, geradezu private Prägung des Vertragsverhältnisses torpediert das Ziel einer objektiven, transparenten Vergabepraxis. Doch auch inhaltlich stehen die Ergebnisse in der Kritik: Häufig verblieben die eindrucksvollen Projektkonzepte in Ordnern und E-Mail-Anhängen, ohne in konkret messbare Verbesserungen zu münden.
Zwischen Dienst- und Werkvertrag: Wann kippt Beratung in Arbeitnehmerüberlassung?
Ein weiterer Aspekt, den der Bundesrechnungshof zwar nur indirekt anspricht („persönlich bekannte Berater“), der aber in der Branche immer wieder diskutiert wird, betrifft die Gefahr der Scheinselbständigkeit und der verdeckter Arbeitnehmerüberlassung. Denn die DRV Bund legt in ihren eigenen Unterlagen Kriterien fest, um zu prüfen, ob jemand wirklich als externer Dienstleister (zum Beispiel auf Werkvertragsbasis) tätig ist, oder ob sich faktisch ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis entwickelt.
Zu diesen Indizien gehört beispielsweise, ob der Auftraggeber den Arbeitsort vorgibt, Abwesenheiten zu genehmigen sind, oder ob sich externe Fachkräfte gar in Dienstpläne einfügen. Es mag nachvollziehbar sein, dass ein komplexes IT-Projekt eine gewisse personelle Stabilität braucht, damit Wissen nicht ständig verlorengeht. Doch wo ist die Grenze zum klassischen Personalbedarf der Behörde, den sie eigentlich durch eigenes Stammpersonal oder – falls nötig – eine gesetzlich korrekte Arbeitnehmerüberlassung decken müsste?
Die Vergabestelle der DRV Bund selbst hat uns in einer exklusiven Stellungnahme eingeräumt, dass zwischen ihren legitimen Projektinteressen und den unternehmerischen Motiven der Dienstleister oft ein Spannungsfeld besteht. Zwar dürfe und solle die DRV Bund projektbezogene Weisungen erteilen, damit man gemeinsame Ziele erreicht. Doch wenn ein „Weisungsrecht“ zu stark in die persönlichen Arbeitsabläufe der betroffenen Berater eingreift, könnte schnell der Tatbestand einer Scheinselbständigkeit oder verdeckten Arbeitnehmerüberlassung erfüllt sein. Der Auftragnehmer verlöre dann seine Eigenverantwortung und arbeitete faktisch wie ein normaler Beschäftigter.
Mangelhafte Wirtschaftlichkeitsprüfung und fragwürdige Vergabepraxis
Die DRV Bund hat zwar eigene Organisationseinheiten, die die Qualität von Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen prüfen sollen. Dennoch stellt der Bundesrechnungshof in seinen jüngsten Feststellungen klar, dass auch in Fällen offenkundiger Mängel alles dennoch abgesegnet wurde. Infolgedessen wurde in etlichen Projekten schlicht nicht belegt, warum eine externe Beratung nötig ist, welche Effizienzsteigerung sie verspricht oder ob die internen Kapazitäten womöglich völlig ausgereicht hätten.
Erschwerend hinzu kommt, dass manche Beratungsverträge ohne oder mit nur sehr eingeschränkter Konkurrenz vergeben wurden. Die DRV Bund begründete dies bisweilen mit vermeintlicher Dringlichkeit oder dem Alleinstellungsmerkmal eines bestimmten Anbieters. Hinterher stellte sich heraus, dass der zugesprochene Auftrag – zum Beispiel eine teure „kulturverändernde Beratung“ – entweder gar nicht so eilig war oder dass andere Dienstleister durchaus vergleichbare Expertise gehabt hätten.
Das Resultat: Selbst nach Abschluss mancher großer Projektaufträge sei laut Prüfbericht nicht einmal das Fundament einer professionellen Umsetzung gelegt worden. So berichtet der Bundesrechnungshof von einer teuren Beratung, um Schnittstellen zwischen zwei Abteilungen zu harmonisieren, bei der das Ganze in einer Empfehlung für ein Gespräch zwischen den betroffenen Führungskräften mündete – das dann jedoch jahrelang aus Zeitmangel nicht stattfand.
Hohe Stundensätze und unklare Mehrwerte
Die DRV Bund argumentiert, sie befinde sich in einem umfassenden Modernisierungsprozess, bei dem „neue Wege“ ausprobiert und „kulturverändernde Prozesse“ angestoßen würden. Manchmal entstehe dabei etwas völlig Neues, was sich vorab nicht in einer klassischen Zielformulierung festschreiben lasse. Für viele Beobachter klingt das indes wie eine Ausrede für unklare Projektziele, die hinterher nicht überprüft werden können.
Jedes Beratungsunternehmen arbeitet naturgemäß gewinnorientiert. Honorare liegen oft im hohen dreistelligen oder vierstelligen Euro-Bereich pro Tag und Berater. Bei sehr spezialisierten IT-Dienstleistern kann die Vergütung noch weiter ansteigen. Dass die DRV Bund abermals betont, die Qualitätssicherung intern verbessert zu haben, überzeugt den Bundesrechnungshof nur begrenzt. Denn viele der jetzt kritisierten Fälle wurden bereits von jenen Gremien abgenommen, die man zuvor als Kontrollinstanzen eingerichtet hatte.
Besonders auffällig ist laut BRH, dass sich nach Abschluss millionenschwerer Projekte in einigen Fällen überhaupt kein Mehrwert nachweisen lässt. So sollten bei einem Großvorhaben in der Personalabteilung durch reorganisierte Abläufe langfristig Kosten gespart werden. Am Ende stieg die Zahl der Stellen deutlich, sodass das Ergebnis in geradezu gegenteiliger Richtung lief. Ebenso gab es ein IT-Projekt, dessen Datenschutz-Konzept so unzureichend war, dass die neu entwickelten Auswertungskennzahlen gar nicht genutzt werden dürfen.
Risiko für Beitrags- und Steuermittel
Der Bundesrechnungshof hat die Ergebnisse seiner Prüfung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) übermittelt, die beide für die Aufsicht über die DRV Bund verantwortlich sind. Zwar betonte das BAS, es habe selbst schon eine eigene Prüfung durchgeführt und sehe keinen Anlass, aktiv zu werden – zumal die DRV Bund nun bessere Kontrollen in Aussicht gestellt habe. Doch genau hierin liegt für die Prüfer die Gefahr: Wenn die DRV Bund keine konkreten Maßnahmen definiert, bleibe die begleitende Kontrolle ein zahnloses Instrument.
Mit Blick auf die stetig steigenden Aufwendungen für „strategische Beratung“ und die offenkundigen Lücken im Vergabemanagement bleibt laut BRH unklar, ob hier nicht weiterhin erhebliche Summen der Beitragszahler in wenig nutzenstiftenden oder gar kontraproduktiven Projekten versickern. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie weit man den Spielraum der DRV Bund dehnen darf, wenn doch das Sozialgesetzbuch eine sparsame und wirtschaftliche Mittelverwendung vorschreibt.
Das Spannungsfeld zwischen Projektbedarf und rechtlichem Rahmen
Einzelne Führungskräfte bei der DRV Bund verteidigen die zahlreichen Beratungsaufträge. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, mit hochqualifizierten Spezialisten zu kooperieren und innovative Ansätze in großer Geschwindigkeit umzusetzen. Gerade im Bereich der IT-Sicherheit und des modernen Online-Services ist das Argument schlüssig, dass externes Wissen oft unverzichtbar sein kann.
Problematisch wird es jedoch, wenn die Beratung so eng in den Betriebsablauf eingebunden wird, dass man die klassischen Grenzen zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber kaum mehr erkennt. An dieser Stelle ist ein genauer Blick auf das Arbeits- und Vergaberecht nötig: Wird ein Projekt zwar als „Werkvertrag“ getarnt, aber tatsächlich wie eine reguläre Festanstellung organisiert, spricht vieles für verdeckte Arbeitnehmerüberlassung – mit all den rechtlichen Konsequenzen, die ein solcher Verstoß hätte.
In ihren eigenen Leitfäden sieht die DRV Bund bereits entsprechende Indizienkataloge vor. Mit der Beschreibung des Auftragsverhältnisses zum Antrag auf Feststellung des Erwerbsstatus (Formular C0031) fragt sie die Kriterien ab. Allerdings lässt die Praxis erahnen, dass die formale Dokumentation manchmal nicht mit der Realität im Projektalltag übereinstimmt. Wer als Berater seine Abwesenheit abstimmen muss, ständig an Besprechungen teilnimmt oder gar bei Nichtleistung Sanktionen fürchten muss, befindet sich nicht mehr in einem freien Dienstverhältnis sondern in einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung.
Quellen
Bundesrechnungshof (BRH)
Bericht des Bundesrechnungshofs über kostspielige Aufträge für unnötige Beratungen:
https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/hauptband-2024/09-volltext.html
Beratungsdienstleistungen und Projektunterstützung 2023
Interne Kennnummer: FV12-22-0540-30-04
Vertragsabschluss: 20. April 2023
TED-Link: https://ted.europa.eu/de/notice/-/detail/269382-2023
Kurzbeschreibung:
Rahmenvereinbarung über Beratungsdienstleistungen und
Projektunterstützung für die Vorbereitung und operativen Umsetzung
unternehmensrelevanter Projekte der Deutschen Rentenversicherung Bund
(DRV Bund).
Los 1 – IT-Management und Strategie
395.184 Beraterstunden für IT-Organisation, Services und Informationsverarbeitung
Los 2 – Unternehmenskommunikation (inkl. Media und Marketing)
67.352 Beraterstunden für Vorbereitung, Begleitung und Umsetzung bei der Erledigung der vielfältigen externen und internen Kommunikationsaufgaben
Los 3 – Rehabilitation und Rehabilitationskliniken
44.640 Beraterstunden für Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben der Deutschen Rentenversicherung Bund
Los 4 – Personalmanagement
26.256 Beraterstunden für Personalwirtschaft
Los 5 – Unternehmens- und Organisationsentwicklung
632.448 Beraterstunden für Vorbereitung, Begleitung und Umsetzung von Projekten sowie Vorhaben der DRV Bund im Hinblick auf Prozesse und Organisation
Summe (laut Vergabeunterlagen):
1.165.880 Beraterstunden (145.735 Beratertage, ca. 728 Beraterjahre bei 1600 Stunden/Jahr)
Mindful Transformation 2022
Interne Kennnummer: FV12-22-0410-13-02
Vertragsabschluss: 08. September 2022
Laufzeit: 01.10.2022 – bis 30.09.2026
TED-Link: https://ted.europa.eu/de/notice/-/detail/498966-2022
Kurzbeschreibung:
Kulturelle Begleitung aller IT-Maßnahmen und strategischer Vorhaben der
DRV-IT, die sich aus der IT-Agenda 2020 ergeben haben. Der GB 0500 (Informationsverarbeitung) führt diese kulturelle Begleitung unter dem Titel „Mindful Transformation“ durch – die achtsame Transformation
4.000 Personentage für ein erfahrenes und konstantes interdisziplinäres Begleitungsteam von 5 Mitarbeitern.
- Senior Coach „Kulturwandel integrales Führen“ für 6.400 Stunden
- Senior Coach „Mindful Transformation“ für 6.400 Stunden
- Coach „Mindful Transformation“ für 6.400 Stunden
- Prozesskenner*in/Toolanpassung für 6.400 Stunden
- IT-Sicherheits-/Risiko-Manager*in für 6.400 Stunden
32.000 Beraterstunden (4.000 Beratertage, 5 Berater über 4 Jahre mit 1600 Stunden/Jahr)
Beratungsdienstleistungen und Projektunterstützung 2020
Interne Kennnummer: FV12-19-0072-30-04
Vertragsabschluss: 15. Juni 2020
TED-Link: https://ted.europa.eu/de/notice/-/detail/296653-2020
Kurzbeschreibung:
Rahmenvereinbarung über Beratungsdienstleistungen und Projektunterstützung.
Los 1 – IT- Management, Strategie und Security
413.654 Beraterstunden für IT-Organisation, Services und Informationsverarbeitung
Los 2 – Unternehmenskommunikation und Marketing
78.128 Beraterstunden für Vorbereitung, Begleitung und Umsetzung bei der Erledigung der vielfältigen externen und internen Kommunikationsaufgaben
Los 3 – Rehabilitation und Rehabilitationskliniken
2.560 Beraterstunden für Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben der Deutschen Rentenversicherung Bund
Los 4 – Personalmanagement
7.600 Beraterstunden für Personalwirtschaft
Los 5 – Unternehmens- und Organisationsentwicklung
218.057 Beraterstunden für Prozesse und Organisation
Summe (laut Vergabeunterlagen):
719.999 Beraterstunden (ca. 90.000 Beratertage, ca. 450 Beraterjahre bei 1600 Stunden/Jahr)