Das Dilemma der freien Wahl
Es steht jedem frei, sein berufliches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und in der Tat berichten viele Selbständige von der Freude am selbstbestimmten Arbeiten. Doch es gibt auch die andere Seite: Wer wirklich alle Eventualitäten einkalkuliert, landet mitunter bei einer simplen Erkenntnis – eine Festanstellung mag vielleicht weniger glamurös erscheinen, kann aber wirtschaftlich und sozialrechtlich Vorteile bieten. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Gehaltspaket alle Sozialversicherungen, Urlaubstage und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall enthält, oder ob all dies aus dem scheinbar hohen Honorar selbst bezahlt werden muss.
Kein Wunder also, dass deutsche Gerichte und Behörden – allen voran die Deutsche Rentenversicherung (DRV) – immer genauer hinschauen. Denn sobald Scheinselbständigkeit im Raum steht, drohen dem Auftraggeber empfindliche Nachzahlungen. Doch die Beschäftigten selbst sind ebenfalls nicht vor unangenehmen Überraschungen gefeit. Insbesondere im Fall von Krankheit, betriebsbedingtem Auftragsstopp oder wenn der Kunde nicht zahlt, wird schnell klar, dass „die Freiheit“ auch einen Preis hat.
Die rechtlichen Hintergründe
Rein rechtlich regelt § 7 SGB IV die Abgrenzung zwischen selbständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung. Wem Weisungen erteilt werden oder wer fest in die betriebliche Organisation eingegliedert ist läuft Gefahr, als scheinselbständig eingestuft zu werden. Dann könnten rückwirkend Sozialversicherungsbeiträge anfallen. Für Selbständige mit Lehrtätigkeit oder Dozentenjobs gelten sogar weitere Besonderheiten nach § 2 SGB VI (Pflichtversicherung in der Rentenversicherung).
Das Rechenbeispiel: Von 65.000 Euro Jahresgehalt zum Tagessatz
Wer in Deutschland als IT-Spezialist fest angestellt arbeitet, erzielt nicht selten ein Jahresbruttogehalt von rund 65.000 Euro. Doch was bedeutet das für den Arbeitgeber an tatsächlichen Kosten – und wie lässt sich daraus ein Tagessatz ableiten, der einem Selbständigen vergleichbare Rahmenbedingungen verschafft?
Eine Beispielrechnung:
Bruttojahresgehalt (Arbeitnehmer): 65.000 Euro
Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung:
~ 21 % (Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung)
65.000 × 1,21 = 78.650 Euro
Berücksichtigung von Urlaub und Krankheit:
Rund 30 Tage Urlaub + 10 Feiertage + durchschnittlich 5–10 Krankeitstage
Dies entspricht grob 15 % bis 20 % zusätzlicher Kosten (vergütete Ausfallzeit)
Gehen wir von 15 % aus: 78.650 × 1,15 = ca. 90.450 Euro
Sach- und Verwaltungskosten:
Büro, Laptop, Software-Lizenzen, Telefon, Weiterbildung, Verwaltung
Geschätzt 5.000–8.000 Euro pro Jahr und Mitarbeiter
Setzen wir 6.500 Euro an, ergibt sich etwa: 90.450 + 6.500 = 96.950 Euro
Wer zudem noch Puffer für Personaladministration, Unfallversicherung, Berufsgenossenschaft und die IHK aufrechnet, landet schnell bei einer Jahressumme jenseits der 100.000 Euro, die der Arbeitgeber für einen festangestellten IT-Mitarbeiter kalkulieren muss.
Nun fragt man sich: Wie hoch müsste folglich der Tagessatz für einen Selbständigen ausfallen, um ein vergleichbares Niveau abzudecken? In der öffentlichen Verwaltung wird regelmäßig ein Kontingent von 200 Tagen oder 1600 Stunden angesetzt.
96.950 Euro / 200 Tage = ca. 485 Euro Tagessatz
Legt man höhere Verwaltungs- und Sachkosten an, können es auch 500 Euro pro Tag oder mehr werden. Wer realistisch aufrundet, wird schnell bei rund 550 Euro Tagessatz (68,75 Euro Stundensatz) liegen müssen, um aus freiberuflicher Sicht das gleiche Nettoeinkommen und denselben Schutzradius zu genießen. Hinzu kommen mögliche Reisekosten.
Eine gängige Faustformel lautet:
Bruttojahresgehalt (Arbeitnehmer) / 1.000 = Stundensatz
(65.000 Euro / 1.000 = 65 Euro Stundensatz)
Dies setzt allerdings voraus, dass der Selbständige an 200 Tagen im Jahr durchgängig Aufträge hat. Fällt die Zahl der beauftragen Tage oder der Tagessatz niedriger aus, kann eine Festanstellung finanziell vorteilhafter sein. Alternativ sollte der Selbständige seinen Stundensatz höher ansetzen und Ausfallzeiten einplanen.
Das Trugbild des hohen Honorars
Genau an dieser Stelle tritt das häufige Missverständnis zutage: Ein Auftraggeber mag stolz darauf sein, einem Solo-Selbständigen 500 Euro pro Tag zu zahlen. Verglichen mit dem Stundensatz eines regulären Mitarbeiters scheint dies überragend. Doch wer genauer rechnet, erkennt schnell, dass die vermeintlich üppige Summe am Ende kaum die Aufwendungen deckt.
Ein Selbständiger bekommt:
- Keine Zuschüsse zur Renten- oder Krankenversicherung
- Keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (außer er versichert sich selbst)
- Keinen Kündigungsschutz
- Kein Recht auf Einhaltung von Arbeitszeiten oder Ruhezeiten
- Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (5-10 Tage wurden berücksichtigt)
- Keine bezahlten Urlaubstage (30 Urlaubstage wurden berücksichtigt)
All das sind Faktoren, die den Freelancer-Stundensatz rapide erhöhen müssten, wollte man ein ähnliches Sicherheitsnetz schaffen wie in der Festanstellung. Dennoch lassen sich viele junge oder unerfahrene Selbständige von vermeintlich hohen Tagessätzen verführen und geraten im Krankheitsfall oder bei Auftragsflauten schnell an ihre wirtschaftlichen Grenzen.
Kein Netz, kein doppelter Boden
Ein gravierender Punkt bleibt die Arbeitslosenversicherung: Ein festangestellter IT-Experte, der seinen Job verliert, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld I, berechnet nach seinem vorherigen Einkommen. Ein Selbständiger hingegen schaut in die Röhre, sobald das Projekt ausläuft oder kein neuer Kunde in Sicht ist. Zwar existiert eine freiwillige Arbeitslosenversicherung (§ 28a SGB III), doch viele Selbständige unterschätzen, wie wichtig eine solche Absicherung sein kann. Wer sich nicht kümmert, muss schlicht von seinen Rücklagen leben oder eventuell Sozialleistungen beantragen.
Es ist dieser Aspekt, der von vielen im Eifer des Gefechts vergessen wird. Die Aussicht auf Unabhängigkeit, Homeoffice und die freie Zeiteinteilung überstrahlen zunächst alles. Doch wenn der Auftraggeber kündigt – was bei Selbständigen oft ohne großen Kündigungsschutz geschieht –, steht man buchstäblich ohne Sicherung da. Dabei ist der soziale Status eines arbeitslosen Solo-Selbständigen gesetzlich betrachtet deutlich fragiler als der eines entlassenen Angestellten.
Gesetzliche Stolperfallen
Spannend wird es zusätzlich bei der Frage, ob die Beschäftigung wirklich selbständig oder nicht doch ein verkapptes Arbeitsverhältnis ist. Eine Statusprüfung gemäß § 7a SGB IV kann schnell ergeben, dass der „Freie Mitarbeiter“ tatsächlich fest ins Unternehmen eingebunden war. Dann ist nicht nur der Auftraggeber dran, sondern auch der vermeintlich freie IT-Experte muss mit unangenehmen Fragen rechnen. Besonders kniffelig wird es, wenn gleichzeitig Schwarzarbeit ins Spiel kommt (§ 1 SchwarzArbG) oder wenn – etwa bei Lehrtätigkeiten – eine Rentenversicherungspflicht besteht (§ 2 SGB VI).
Die Rechtsprechung mahnt daher immer wieder, genau zu prüfen, ob die Freiheit der Selbständigkeit wirklich gelebt wird, oder ob es sich lediglich um eine Umgehung arbeitsrechtlicher Vorschriften handelt. Auftraggeber müssen sich ebenso wie Auftragnehmer bewusst sein, dass vermeintlich komfortable Tagessätze sie nicht vor der gesetzlichen Einordnung als Arbeitsverhältnis schützen. Wer täglich Weisungen annimmt, Dienstpläne einhält und Berichte wie ein normaler Angestellter abzuliefern hat, handelt wohl kaum selbstbestimmt.
Wann lohnt sich die Selbständigkeit?
Ob sich die Selbständigkeit rein rechnerisch lohnt, hängt von vielen Faktoren ab: Branchenüblichen Honoraren, persönlicher Risikobereitschaft, familiärer Situation, Versicherungsstatus und mehr. Wer lediglich ein oder zwei Auftraggeber hat und obendrein Tagessätze akzeptiert, die gerade so das Nettogehalt eines Angestellten abdecken, fährt womöglich schlechter. Denn fehlen die bezahlten Ausfallzeiten, geht jede Krankheitswoche direkt aufs Konto – im negativen Sinne.
Das obige Beispiel mit dem 65.000 Euro Bruttoangestellten zeigt, dass sich ein Freelancer erst ab etwa 550 Euro Tagessatz annähern kann, um auf das gleiche Niveau zu kommen. Wer darunter liegt, erkauft sich seine „Freiheit“ unter Umständen mit einer geringeren sozialen Absicherung. Hier heißt es kühlen Kopf bewahren: Was nützt der Verdienst in Hochzeiten, wenn man in Flauten kein Polster hat?
Klarheit statt Illusion
Letztlich bleibt die Frage, wie sich das Arbeitsleben für jeden Einzelnen ideal gestalten lässt. Festanstellung bedeutet Schutz, aber weniger Flexibilität. Selbständigkeit bringt Freiheit, aber auch permanente Eigenverantwortung und teils existenzielle Risiken. Wer glaubt, dass ein scheinbar hoher Tagessatz all das kompensiert, sollte ganz genau nachrechnen. Zu bedenken ist, dass bei einer unklaren Rechtslage und einer möglichen Statusfeststellung das vermeintliche Paradies eines Tages zerplatzen könnte.
Und selbst in rechtlich einwandfreien Fällen stellt sich die Frage: Lohnt sich Selbständigkeit, wenn Krankheitsphasen oder Auftragslücken nicht abgesichert sind und das Risiko allein an einem selbst hängt? Es kann sich lohnen, ja, aber nur dann, wenn die Vergütung wirklich hoch genug ist, um sich ein Sicherheitsnetz selbst zu knüpfen. Alles andere wäre ein Sprung ins kalte Wasser, ohne Gewähr für einen ruhigen Tauchgang. So bleibt abschließend festzustellen, dass das Bild vom scheinbar reich entlohnten Solo-Selbständigen oft nur ein halbes ist – und dass das Gegenstück aus Sozialleistungen, Lohnfortzahlung und planbarer Sicherheit rasch aufzeigt, wie illusionär ein vermeintlich hohes Honorar sein kann.